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Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft

"Ein Geburtstagsgruß an meine altgewordene Kirche"

28.05.2023

Prof. Matthias Remenyi hat im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche eine Beitrag zum Pfingstfest veröffentlicht.

Pfingsten 2023: Ein Geburtstagsgruß an meine altgewordene Kirche

Von Matthias Remenyi, Würzburg

Pfingsten feiern wir das Fest des Heiligen Geistes. In einer kunstvoll komponierten Gegenvision zur Babylonischen Sprachverwirrung erzählt die Apostelgeschichte davon, wie der Geist in Feuerzungen auf die Jüngerinnen und Jünger herabkommt. Vom Geist erfüllt, beginnen sie in fremden Sprachen zu reden und Gottes große Taten zu verkünden. Petrus tritt auf und zitiert aus der Endzeitrede des Propheten Joël, dass am Ende der Zeiten Gottes Geist über sein Volk käme, dass die Jungen Visionen und die Alten Träume haben und die Menschen prophetisch reden würden. Das nun, so Petrus, geschehe jetzt. Denn Gott habe diesen Jesus, der gekreuzigt wurde, nicht im Tod gelassen, sondern auferweckt und zum Herrn und Christus gemacht. Sein Geist sei es, der verheißen war und der nun ausgegossen worden sei (Apg 2,1‐36).

So kommt es, dass die Kirche an Pfingsten Geburtstag feiert. Ihren Geburtstag. Natürlich gab es keinen formellen Kirchenstiftungsakt, weder durch den historischen Jesus noch durch Petrus oder den Zwölferkreis. Und natürlich gab es vor dem Pfingstfest noch andere kirchenprägende Ereignisse, allen voran das letzte Abendmahl mit den beiden symbolischen Grundakten, die fortan der Kirche eingeschrieben sind, dem Mahl von Brot und Wein als Zeichen der Erinnerung an die Gottverbundenheit der Kirche sowie der Fußwaschung als Zeichen ihrer dienstbaren Verbundenheit mit allen Menschen. Schließlich ist auch klar, dass die Kirche älter und weiter ist als die Gruppe der Getauften. Die „Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung“, so drückt es das Konzilsdokument Nostra aetate aus, finden sich „schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten“ (NA 4,2). Das ist nicht vereinnahmend gegenüber dem Judentum gemeint, sondern wertschätzend: Wir sind Kinder Abrahams. Ein altes und in der Kirchengeschichte vielzitiertes Wort spricht von der Ecclesia ab Abel, der Kirche von Abel an, die alle Gerechten und Menschen guten Willens aller Zeiten umfasst.

Und doch bleibt es dabei: Pfingsten feiern wir den Geburtstag unserer Kirche. Wir feiern, dass die Jüngerinnen und Jünger die Angst überwunden haben, die nach Jesu Tod ihr Herz gelähmt hatte, dass sie in die Öffentlichkeit getreten sind und allen vom Wunder der Auferweckung erzählt haben: dass der, der tot war, aus der Kraft Gottes neu lebendig ist. Dass das Leben stärker ist als der Tod, die Liebe kräftiger als der Hass, dass im Ende der neue Anfang ist. Dass Er uns seinen Geist geschenkt hat, der uns begleiten, stärken und ermutigen will, und dass wir uns aus diesem Geist heraus als Kinder Gottes wissen dürfen. Aller Furchtsamkeit, aller Lebensangst zum Trotz. Kirche begann, Kirche wurde – und Kirche will immer wieder aufs Neue aus diesem Geist heraus werden. Das feiern wir am Pfingstfest.

An die 2000 Jahre sind seit jenem ersten Pfingstfest in Jerusalem vergangen. Lang ist’s her. Heute, so scheint es, ist die Kirche alt geworden und grau. Von Missbrauchs‐ und Vertuschungsverbrechen erschüttert, in dysfunktionalen Strukturen gefangen, steckt die Kirche in ihrer tiefsten Krise mindestens seit der Reformation im 16. Jahrhundert. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit macht sich breit bei vielen, auch bei ehemals treu Verbundenen. „Obdachlos katholisch“ hat die Autorin Regina Laudage‐Kleeberg ihr gerade erschienenes Buch betitelt, und sie trifft einen Nerv damit. Kirchliches Brauchtum wird zwar noch hie und da gepflegt, doch die innere Austrocknung, die Müdigkeit und Ratlosigkeit sind mit Händen zu greifen. Da hilft kein Schönreden: Was wir in unseren Strategiepapieren euphemistisch als Transformationsprozesse beschreiben, wird vor Ort oft genug als harter Erosionsprozess wahrgenommen. Altes erstirbt, Neues ist entweder noch nicht gefunden oder – schlimmer noch! – wird von verschiedensten, amtlichen wie nichtamtlichen, römischen wie lokalen, Beharrungskräften ausgebremst.

„Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung offenbar“, so sagt es ein anderer Text des Konzils, Lumen gentium (LG 5,1). Auch wenn die Kirche derzeit weniger heilig als vielmehr schuldbeladen und sündhaft in Erscheinung tritt, wird es doch gut sein, unter diesem Fokus die Pfingstszene etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Die folgenden fünf Handlungsimpulse, die sich dabei entdecken lassen, könnten in der gegenwärtigen Krise wichtig sein.

  1. Sich vom Geist ergreifen lassen: Das Wehen des Geistes ist kein Zuckerschlecken. Es stürmt und es brennt. Liebgewordenes wird weggeblasen, Vertrautes verglüht; manchmal in der großen Eruption, manchmal in der Banalität der alltäglichen Mühsamkeit. Dabei gilt: Der Geist des Herrn bestätigt selten das Gewohnte. Oft verstört er, oft durchkreuzt er unsere Pläne. Er ist nicht Erfüllungsgehilfe unser Wünsche, vielmehr erfahren wir uns als von ihm ergriffen. Uns kommt es nur zu, ihm nicht im Wege zu stehen, sondern uns von ihm ergreifen zu lassen.
  2. Auf die Straßen und Plätze gehen: Pfingsten initiiert nicht eine billige Zurück‐ins‐ Boot‐Kampagne. Vielmehr geht es um die Arbeit an der Angst. Es geht darum, die eigene Furchtsamkeit anzusehen, ihr aber nicht zu erlauben, handlungsleitend zu werden. Es gilt, die neue Freiheit zu nutzen, die sich aus den Abbrüchen des Alten ergibt. Das Christentum kennt im Grundsatz keine Arkandisziplin, es ist immerschon politisch, und es ist öffentlich. Deshalb braucht es die freie Rede: bedacht, aber klar und entschieden.
  3. Die Auferweckung erhoffen und bezeugen: Maßstab und Gehalt dieser freien Rede sollen sich auf den Kern der christlichen Hoffnung beziehen, auf die Auferweckung aus dem Tod. Das ist Inhalt der Pfingstpredigt des Petrus: Der, der tot war, lebt. So also ist zu sprechen, dass Wandlung und neues Leben auch im Enden möglich werden können. Kriterium allen (Sprach‐)Handelns muss die Hoffnung darauf sein, dass ein Leben in Fülle der Plan Gottes für seine Geschöpfe ist. Dabei mitzuhelfen, dafür Zeugnis abzulegen, das ist unser Beruf als Christinnen und Christen. Nie vergessen werden darf dabei, dass die Auferweckungshoffnung von Anfang an eine Hoffnung auf Gerechtigkeit war: dass der Mörder nicht auf ewig über sein Opfer triumphiere (Max Horkheimer).
  4. In fremden Sprachen sprechen: Nicht die anderen erlernen die Sprache der Jüngerinnen und Jünger, sondern diese sprechen plötzlich in den vielen Sprachen der umstehenden Fremden. Das Christentum als Gastfreundschaft zu leben heißt, zum Gast des Gastes zu werden, eine entgrenzte Identität einzuüben und im Fremdsein des anderen das Eigene neu zu lernen (Christoph Theobald). Sektiererische Selbstabkapselung und identitäres Gehabe sind seit Pfingsten bei Strafe des völligen Relevanzverlusts verboten. Stattdessen gilt es, die eigenen Grenzen zur offenen Kontur umzugestalten (Christine Büchner) und in Demut den Ikonoklasmus der eigenen klerikalen Bildvorstellungen zu vollziehen (Hansjürgen Verweyen). Oder noch einmal anders (diesmal mit Hans‐Joachim Sander) gesprochen: Erst wenn wir gelernt haben, die eigene Überflüssigkeit ohne Bitternis auszuhalten, können wir Gottes Überfluss wieder neu Raum geben. Das impliziert nicht nur eine recht verstandene Absichtslosigkeit – nicht: Ziel‐ oder Planlosigkeit! – in unserem pastoralen Tun, sondern auch die Anerkennung von Vielfalt, Diversität und Buntheit als wertvoll.
  5. Träume und Visionen zulassen, prophetisch leben: Auch das lehrt das Pfingstereignis, dass die uralte Prophetie des Joël sich heute erfüllt. Hier und jetzt. Leben wir danach! Streben wir danach, das Neue zu leben! Das klingt pathetischer und kitschiger, als es gemeint ist. In Wahrheit bedeutet das nämlich: Störungen sind zuzulassen, Fehlertoleranz, Experimentierfreudigkeit und Ambiguitätssensibilität sind einzuüben. Die Prophetinnen und Propheten von heute brauchen erhebliche Frustrationstoleranz. Das Neue leben, bedeutet aber auch: Es wird Regelbrüche geben und es muss sie geben, damit Neues werden kann. Aktionen wie „Out in Church“ oder „Liebe gewinnt“, aber auch Laien‐ und v. a. Frauenpredigten sowie ökumenische Mahlfeiern sind solche Regelbrüche, aus denen Segen erwächst.

Ob all das gelingt, ist offen. Viel spricht dafür, dass wir erst noch tiefer in das Tal der Tränen hineinmüssen, dass noch viel Trauerarbeit nötig sein wird. Und auch dann ist zuhöchst ungewiss, was draus werden wird, ob das Neue angenommen werden, ob es wachsen und blühen wird. Die Krise ist manifest. Doch wenn die Stürme des Lebens im Glauben als das Wehen des Geistes anzunehmen und zu bestehen sind, dann dürfen wir auch bei allen Turbulenzen gelassen und gottesfroh bleiben. Sie sind betrunken – so spotteten schon damals ihre Zeitgenossen über die ersten Pfingstprophetinnen und ‐propheten zu Jerusalem (Apg 2,13.15). Warum sollte es heute anders sein? Die beste Reaktion darauf: ein gutes Glas Silvaner, idealerweise als Brückenschoppen auf der Alten Mainbrücke in Würzburg.

 

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