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Professur für Christliche Sozialethik

Was ist Christliche Sozialethik?

Das Fach "Christliche Sozialethik" (auch: "Gesellschaftsethik") gehört seit etwa 100 Jahren zum Kanon der katholischen Theologie in Deutschland. Doch was ist unter Christlicher Sozialethik eigentlich zu verstehen?

Unter Ethik versteht man eine kritische Reflexion von Handlungen, wobei sie nicht nur nach den Handlungen per se, sondern auch nach ihren Bedingungen und Umständen fragt: Welche Haltungen und Ziele haben die handelnden Akteure? Innerhalb welcher Strukturen handeln sie - also welchen Regeln und Normen unterliegen sie?
In der Ethik werden dabei nicht nur deskriptiv Handlungen beschrieben, sondern auch normativ bewertet: Was ist ethisch legitim, welche Handlungen sind verboten? Dabei hat die Ethik immer auch den Anspruch, Empfehlungen und Orientierungen für Handlungsalternativen auszusprechen.

Sozialethik ist dann zunächst einmal eine Ethik des Sozialen. Unter dem Sozialen versteht man institutionelle Gebilde, d. h. eine Vielzahl von Handlungen individueller Akteure, die sich in einer institutionalisierten Form zu etwas eigenem verfestigt haben. Diese Gebilde oder Strukturen sind letztlich mehr als die bloße Summe der individuellen Handlungen: Durch die Verdichtung der Handlungs- und Interaktionszusammenhänge entstehen Strukturen, Ordnungen und Regeln, die das Gebilde letztlich zu etwas ganz "anderem" machen. Das Soziale hat damit eine gänzlich "neue Qualität" (Arno Anzenbacher), als es die Summe der einzelnen Handlungen für sich genommen hat.
Als Ethik des Sozialen reflektiert die Sozialethik also über gesellschaftliche Ordnungen und Strukturen und fragt nach ihren Bedingungen und ihrer gerechten Gestaltung. Im Unterschied zur Individualethik geht es bei dieser Reflexion nicht primär um die Handlungen einzelner Individuen. Vielmehr blickt die Sozialethik auf diejenigen Strukturen und Ordnungen, die das Handeln der Akteure innerhalb der Gesellschaft normieren und die nicht durch den Willen der einzelnen Individuen frei gestaltet werden können (Wilhelm Korff) - es interessiert den Sozialethiker also beispielsweise weniger, ob ein einzelner Arbeitgeber seinen Angestellten aus persönlicher Gier bei Vertragsabschluss übervorteilt, sondern, ob Arbeitnehmer/-innen in Deutschland ausreichend durch Sozial- und Arbeitsgesetzgebung geschützt werden bzw. inwiefern eine entsprechende gesetzliche Normierung eine Ausbeutung von Arbeitskräften gegenwärtig begünstigt oder verhindert.

Als Christliche Sozialethik und theologische Disziplin behält die Sozialethik bei ihren Analysen immer im Blick, dass der Mensch "Ursprung, Träger und Ziel aller sozialen Institutionen ist" (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes 25). Deshalb reflektiert sie das Soziale unter dem Gesichtspunkt, ob es auch wirklich im "Dienst des Menschen" gestaltet ist. Ihren Auftrag versteht sie auch als einen Gestaltungsauftrag, sie will nicht nur anmahnen, sondern Impulse geben, wie die Gesellschaft zukünftig für den Menschen gerechter und lebenswerter gestaltet werden kann.
Christliche Sozialethik ist einer der drei "Akteure" der katholischen Soziallehre: Sie ist die wissenschaftliche Reflexion auf die Praxis der Gläubigen (Basis) und das kirchliche Lehramt (kirchliche Sozialverkündigung). Ihr kommt die Aufgabe zu "die Erfahrungen und Interpretationen der Basis sowie die lehramtlichen Aussagen in Bezug auf gesellschaftlich relevante Prozesse und Phänomene unter Einbindung der entsprechenden Erkenntnisse anderer Wissenschaften zu analysieren und in konstruktiver Weise Verbesserungen bestehender Gesellschaftsverhältnisse aufzuzeigen." (Reinhard Marx und Helge Wulsdorf, 2002, 22-23)

Als christlich-ethische Reflexion auf das Soziale - also die gesellschaftlichen Gebilde der Gegenwart - setzt sich die christliche Sozialethik immer auch mit Bedingungen der (Post-)Moderne auseinander. Auf diese gegenwärtigen Sachverhalte will sie kompetent reagieren und benötigt dazu fundierte Analysen zeitgenössischer dieser Sachverhalte. Deshalb sucht sie aktiv die Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen - Soziologie, Ökonomie, Psychologie u. a. - und arbeitet verstärkt interdisziplinär.

Der Anspruch christlicher Sozialethik ist es letztlich, nicht nur für die Theologie und den christlichen Glauben anschlussfähig zu sein, sondern über die fachlichen, konfessionellen, religiösen und schließlich auch kulturellen Grenzen hinaus in aktuellen Diskursen das Proprium einer christlichen Ethik nachvollziehbar vertreten zu können. Christliche Sozialethiker arbeiten deshalb nicht nur interdisziplinär, sondern auch interkonfessionell, interreligiös und interkulturell.
Nicht zuletzt, um diesem hohen Selbstanspruch gerecht werden zu können, und auch angesichts einer Vielzahl gesellschaftlicher Sachverhalte und Institutionen haben sich im Laufe der Jahre verschiedene, nicht völlig trennscharf abgegrenzte Bereichsethiken entwickelt, die sich jeweils vorrangig mit bestimmten sozialen Handlungsbereichen auseinandersetzen. Dazu gehört beispielsweise die Wirtschaftsethik, aber auch die ökologische Ethik, Medizinethik oder die Fragen nach Migration, Geschlechterverhältnissen oder gerechten Arbeitsbedingungen.


Prisca Patenge