Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik
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Am Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich für die Religionspädagogik ein erneuter Umbruch ab, der vielfach als enorme Herausforderung für Theorie und Praxis empfunden wird. War die Religionspädagogik seit den 1960er Jahren vorwiegend auf das Problem der Säkularität bezogen, so erweist sich heute mehr und mehr die gesellschaftliche, kulturelle, religiöse und weltanschauliche Pluralität als der entscheidende Kontext für religionspädagogisches Handeln. Erscheinungen der (religiösen) Pluralisierung, Privatisierung und Individualisierung finden zunehmend Aufmerksamkeit, neuerdings aber auch bislang übergangene Tendenzen einer Entprivatisierung von Religion sowie neue Formen religiöser Gemeinschaft beispielsweise in Bewegungen und Gruppen.
Ob und in welchem Sinne überhaupt von einer “Säkularisierung” gesprochen werden kann, ist heute wieder neu umstritten. Auch die Autoren des vorliegenden Bandes vertreten hier zum Teil unterschiedliche Auffassungen. Weithin unumstritten ist allerdings das Zurücktreten des kirchlich vertretenen Christentums. Gleichwohl wird dem zu Recht entgegengesetzt, dass es “Religion” gibt in einer Zeit, die anscheinend “ohne Religion” ist. Man entdeckt einen Wandel ihrer Präsenz und ihrer Formen, und der Annahme einer Identität zwischen “Religion” und “Kirche” wird eine differenzierende Sichtweise gegenübergestellt.
Zur Beschreibung der veränderten Situation werden heute unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen und herangezogen - Pluralität, Individualisierung, Postmoderne, zweite Moderne, Globalisierung usw. In unserem Verständnis schließen diese Bestimmungen einander nicht aus. Wir konzentrieren uns jedoch auf die Frage der Pluralität, weil wir darin eine besondere religionspädagogische Herausforderung sehen. Die in diesem Zusammenhang anzutreffenden Begriffe: Pluralität, Pluralisierung und Pluralismus werden allerdings nicht einheitlich verwendet. Wir gehen davon aus, daß Pluralität die Situation von gesellschaftlicher, kultureller, religiöser, weltanschaulicher usw. Vielfalt in ihrer bloßen Gegebenheit bezeichnet, während Pluralismus ein reflektiertes Verhältnis zu dieser Situation meint. In diesem Sinne kann dann auch gesagt werden, daß der Weg von der Pluralität zum Pluralismus führen soll. Im Übergang von der Pluralität zum Pluralismus liegt eine grundlegende Orientierungsleistung, zu der eine pluralitätsfähige Religionspädagogik beitragen kann.
Welchen Herausforderungen begegnet die Religionspädagogik dabei? Einige davon seien hier stellvertretend genannt:
Religionspädagogik muss Religion in ihrer gegenwärtigen Gestalt wahrnehmen und verstehen, sie in subjektiver und objektiver Hinsicht sowie in ihren substantiellen und funktionalen Gehalten erfassen und sowohl Diskontinuität als auch Kontinuität zwischen zeitgenössischer Religionspräsenz und christlicher Tradition aufspüren lernen.
Religionspädagogik muss der neuen Rolle der sich als autonom verstehenden Subjekte und der entsprechenden Aneignungs- statt Vermittlungsprozesse kritisch und konstruktiv gerecht werden.
Religionspädagogik muss ihre Bildungsziele im Verhältnis zu Kirche, Konfession und Religionszugehörigkeit im Horizont von Ökumene und interreligiöser Verständigung neu bestimmen und plausibel machen.
Religionspädagogik muss ihre Arbeit im Blick auf eine Gesellschaft und eine Erziehungswissenschaft kritisch und konstruktiv verantworten lernen, die in einer christlichen Religionspädagogik nicht schon von vornherein ein legitimes Unterfangen sehen.
Die entscheidende Frage lautet bei all dem: Wie ist religiöse Erziehung und Bildung angesichts der Situation postmoderner Pluralität möglich, wenn zum einen die kirchliche Sozialisation zurücktritt, zum anderen aber religiöse Vitalität und Differenziertheit wahrgenommen werden können und wenn schließlich an dem Interesse festgehalten werden soll, die christliche Tradition in pädagogischer Hinsicht lebensbedeutsam einzubringen?
Mit dem vorliegenden Band wird eine neue, angesichts der beschriebenen Situation bewusst ökumenisch angelegte Reihe “Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft” eröffnet, die zugleich einem substantiellen Interesse an ökumenischer Verständigung sowie der Wahrnehmung wechselseitig anregender und sich verstärkender Kooperationsmöglichkeiten in religionspädagogischer Praxis und Theorie dienen möchte.