Deutsch Intern
Professorship of Christian Social Ethics

Fragmente. Sozialethische Überlegungen zu COVID-19

An dieser Stelle erscheinen kleine Beiträge, die ethische Fragen rund um das neuartige Coronavirus behandeln. Die Entwicklung des Virus, der politische Umgang damit (hier und weltweit), sowie die Reaktionen von Gesellschaft (und Wissenschaft) verändern sich schnell. Daher sind diese Beiträge immer nur Momentaufnahmen, die die Gefahr beinhalten, dass ich einige Tage später Dinge anders einschätzen würde. Dennoch scheint es mir sinnvoll, die Situation in kritischer Reflexion zu begleiten – bruchstückhaft, in Suchbewegungen und unabgeschlossen.

 

Von einem Gegensatz, der keiner ist – und vom Ende dieser Reihe

Die Corona-Pandemie ist nicht zu Ende (was auch immer das heißt). Und Themen, die in diesem Zusammenhang zu reflektieren wären, gibt es auch genug. Und dennoch ist dieser „Blog“ zu seinem Ende gekommen – vielleicht vorläufig, wahrscheinlich endgültig. Allzu vielfältig und heterogen sind die Phänomene und Probleme geworden, polarisiert und verfahren die Diskurse und Gespräche darüber. Das macht es schwer, angemessene Reflexionen in dieses Format zu packen.

Ich stelle in diesem Beitrag nur sehr kurze Überlegungen zum verantwortlichen Handeln an, das eigentlich immer, angesichts der Lage aber besonders notwendig ist. „Damals“, als ich mit den Fragmenten begonnen habe, galten die strikten Ausgangsbeschränkungen für alle mehr oder weniger gleichermaßen. Anschließend fanden schrittweise die sogenannten Lockerungen statt. Sie galten nicht für alle gleich, sondern je nach Risikoabwägung für bestimmte Einrichtungen, Gruppen und Situationen. Die Ungleichbehandlung war notwendig, sie muss aber auch jeweils gerechtfertigt sein. Jetzt kommen regionale Regelungsmechanismen hinzu, mit denen man möglichst flexibel auf lokale Geschehen reagieren kann.

Da wir mit diesem Virus bis auf weiteres leben müssen, ist es richtig und notwendig, dass strikte Regelungen gelockert wurden. Das Risiko ist eingedämmt, ausschließen lässt es sich nicht. Mit dieser Einsicht müssen wir leben. Wir müssen auch damit leben, dass allgemeine Regeln nicht jede Situation perfekt regeln können: Manches erscheint ungerecht, unklug oder allzu unlogisch, dann ist an Verbesserung zu arbeiten. Manches kann aber auch nicht bis ins Detail geregelt werden, und das ist gut so. Das heißt jedoch nicht, dass alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, getan werden sollte. Es ist vielmehr wünschenswert, dass Menschen selbstbestimmt und verantwortlich handeln.

Es gibt jedoch bezüglich der Selbstbestimmung einen seltsamen Irrtum. Im Alltagsverständnis scheint es manchmal, als bedeutete Selbstbestimmung, nur das zu tun, was man will und was einem gerade einfällt – ohne jede Rücksicht. Das meint Autonomie aber nicht. So hob schon Kant, der große Denker der Autonomie, hervor, dass Autonomie bedeutet, sich nicht fremd bestimmen zu lassen – also nicht durch Vorgaben von Autoritäten einerseits (das kann auch nötig sein, etwa im legalen Handeln; es ist aber nicht hinreichend für moralisches Handeln), aber auch nicht durch das, wozu man halt gerade Lust hat andererseits (auch das kann seine Berechtigung haben, meint aber nicht Autonomie). Selbstbestimmt handeln heißt, aufgrund eigener Einsicht zu handeln: Nachdenken, vernünftig und besonnen sein – das heißt auch (eigen)verantwortlich handeln, also auch die Folgen des Handelns für sich selbst und für andere im Blick zu behalten.

Daher ist es auch falsch, Autonomie und Solidarität als Gegensätze zu konstruieren. Viele Denkerinnen und Denker haben uns gelehrt, dass wir in manchen autonom sind, aber zugleich nie völlig autonom sind – ohne dass die Idee der Selbstbestimmung deshalb aufgegeben werden müsste. Wir sind bedingt, also in der Autonomie eingeschränkt: Durch Normen, durch andere Menschen und unsere Beziehungen zu ihnen u.v.m. Wir sind autonom und relational. Und niemand kann seine Freiheit ohne andere realisieren. Wir sind auf andere angewiesen. Schon von daher ist es notwendig, den und die andere zu achten. So verstandene Autonomie ist der Solidarität viel näher als dem Egoismus.

Wo die Regeln weniger werden, steigt die Eigenverantwortung der Einzelnen. Das ist gut so, werden damit doch alle als eigenverantwortliche und vernunftbegabte Akteure anerkannt. Möge man reichlich Gebrauch von dieser Vernunft machen!

Das Virus und die Schlachthöfe - Gastbeitrag von Dr. Katharina Ebner

Schlachthöfe wurden auch vor Corona von Vielen als gesellschaftliches Problemfeld wahrgenommen. In regelmäßigen Abständen erregten die prekären Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen in der Fleischindustrie mediale Aufmerksamkeit. Eine Branche, in der ohnehin niedrigste Löhne bezahlt werden, drücke, so der Vorwurf, die Lohnkosten dadurch weiter, dass sie über Subunternehmen anstellt, die sich nicht an geltende Arbeitsschutz- und Arbeitsrechtsbedingungen halten (müssen) oder Werkverträge vergibt, die anstelle des geltenden Mindestlohns pro Stunde die erfolgreich erbrachte Leistung entlohnen, wodurch ebenfalls Lohndumping betrieben werden kann. (1) Die in der Gesellschaft politisch und rechtlich vereinbarten Mindeststandards menschenwürdiger Arbeit werden so unterlaufen, sei es durch viel zu lange Arbeitstage oder durch zu geringe Bezahlung für extrem harte Arbeit. Da die Arbeiter*innen häufig aus dem Ausland angeworben werden, leben sie in beengten Sammelunterkünften, die nicht selten überteuert an sie vermietet werden.

Hinzu kommt, dass auch die Bedingungen, unter denen die Tiere geschlachtet werden, in der Kritik stehen. Neben der grundsätzlichen Frage, ob die geltenden Tierschutzbestimmungen in der Fleischindustrie überhaupt den Belangen der Tiere Genüge tun, werden regelmäßig Verstöße gegen die geltenden Gesetze öffentlich. So werden beispielsweise Betäubungsregeln nicht eingehalten oder es passieren Fehler zulasten der Tiere, die dem hohen Druck und Arbeitstempo geschuldet sind. (2, 3)

Aus ethischer Perspektive sind hier gerecht(er)e Strukturen zu fordern, sie betreffen die angemessene Entlohnung, den ‚gerechten‘ Lohn, und die Vermeidung unnötigen Leids für alle, wenn man Mensch und Tier als Solidar- oder Interessengemeinschaft versteht. Gerade in der Fleischindustrie zeigt sich aber auch, dass die Implementierung, Überprüfbarkeit und Kontrolle von Normen immer dazugehört, wenn es darum geht, den Gerechtigkeitsanspruch tatsächlich einzulösen. Wenn Arbeitsstunden nicht ausreichend kontrolliert werden, Schlupflöcher nicht geschlossen werden, viel zu wenig Kontrollen existieren oder das angedrohte Strafmaß so gering ist, dass es kein Abschreckungspotential hat, dann sind gerechte Strukturen das Papier nicht wert, auf dem sie formuliert wurden.

Neben diesen Ansprüchen, die auf Ebene der Gesellschaft verhandelt werden, lässt sich im Fall der Schlachthöfe auch fragen, wie es um die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber den Angestellten gegenüber bestellt ist. Während mediale Enthüllungen erst auf problematische Zustände in Schlachthöfen aufmerksam machen müssen, ist ja davon auszugehen, dass Arbeitgeber die Arbeitsumstände in seinem Betrieb kennen und für sie in besonderem Maß verantwortlich sind. Wieso sind ihnen diese Umstände (noch?) nicht aufgefallen?

Im Kontext der Pandemie ist nun vieles anders. Sie sorgt zunächst für Sichtbarkeit und verunmöglicht die bisherige Marginalisierung: es lässt sich nicht mehr ausblenden, wie in Schlachthöfen gearbeitet wird. Darüber hinaus produziert und verstärkt Corona Interdependenzen. Die beengten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Schlachthofmitarbeiter*innen haben nun direkt Auswirkung auf alle Bewohner der Landkreise, wenn aufgrund der erhöhten Ansteckungszahl ein Lockdown verhängt wird. Die bisher nur das Unternehmen getroffenen Entscheidungen betreffen nun viele Menschen, Familien, die von erneuten Schulschließungen betroffen sind, Urlauber, die nun nur mit negativem Text beherbergt werden, und Einzelhändler, die nach langer Durststrecke schon wieder schließen müssen.

In der Bewertung der Covid-19-Ausbrüche in Schlachthöfen wird deshalb die Frage nach der jeweiligen Verantwortungszuschreibung zentral sein. Bisher scheint sich abzuzeichnen, dass Schlachthöfe aufgrund ihres feuchten und kühlen Klimas und der Unmöglichkeit, Abstände einzuhalten, ein stark erhöhtes Ansteckungsrisiko haben: Lässt sich also nachweisen, dass die Infektionen auf Nachlässigkeit oder Inkaufnahme basieren, so tragen die Betreiber primäre Verantwortung nicht nur für ihre Angestellten, sondern auch für die Gesundheit der Region. (4) Bei Bekanntwerden erster Infektionen sind auch die lokalen Behörden in den Blick zu nehmen: Haben Sie beispielweise durch eine rechtzeitige Schließung des Betriebs die Allgemeinheit ausreichend geschützt?

Momentan ist noch völlig unklar, ob die erneuten Ausbrüche beherrschbar bleiben oder ob Teile der Lockerungen zurückgenommen werden müssen. Zu hoffen ist zumindest, dass sich durch die verstärkte Aufmerksamkeit auch der Handlungsdruck für handfeste Verbesserungen in Schlachthöfen erhöht.

 

(1) Vgl. Annette Niemeyer, Wie Schlachthöfe Arbeiter aus Osteuropa ausbeuten, NDR Ratgeber vom 30.03.2020.

(2) Vgl. Podcast des Deutschlandfunks zu Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen.

(3) Vgl. Katrin Langhans, Das Leiden der Schweine, SZ vom 03.02.2017.

(4) vgl. zur Debatte um eine mögliche juristische Verantwortung von Clemens Tönnies: Michael Verfürden, Muss Tönnies für den Corona-Ausbruch haften? – Was Juristen dazu sagen, Handelsblatt vom 23.06.2020.

"Frauen und Kinder zuerst!"

Von wegen! Es gibt viele Verlierer dieser Krise – Frauen gehören wohl verstärkt dazu, Kinder ganz bestimmt.

Die Aufweichung des klassischen Rollenmodells gehört zu den Kennzeichen der späten Moderne. Allerdings scheint die Emanzipation oftmals – nicht erst seit Corona – wie ein aufgetragener Lack, glänzend aber dünn, der viele Risse hat. Diese Risse werden derzeit sichtbarer und größer. Durch den Wegfall der Kinderbetreuung in Kitas und Schulen bzw. Horten wird offensichtlich, wie wenig sich die Rollenverteilung in vielen Familien in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Auch wenn die Studien nur erste Eindrücke vermitteln können (1), weisen die Zahlen darauf hin, dass Frauen deutlich häufiger als Männer in den letzten Monaten wegen der zu leistenden Kinderbetreuung nicht mehr arbeiten gingen (die Gründe dafür sind vielfältig) und dass Hausarbeit und Kinderbetreuung immer noch zum weitaus größten Teil von Frauen übernommen werden. Ganz subjektiv: Ich habe in den letzten Jahren oft darüber gestaunt, wie schnell die Emanzipation der Frau bei Eintritt in die Familienphase in vielen Fällen endet. Und ich wundere (und ärgere) mich immer noch, wie selbstverständlich von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen gesprochen wird, wo doch so vielfältige Lebensmodelle zur Aufteilung der Aufgaben zwischen Müttern und Vätern denkbar und möglich wären.

Als Sozialethikerin suche ich zunächst die Gründe dafür in Strukturen. Und ja, es gibt strukturell noch manches zu verbessern, nicht zuletzt hinsichtlich der angemessenen Bezahlung in den vorrangig von Frauen ausgeübten Berufen. Aber die strukturellen Rahmenbedingungen haben sich auch erheblich verbessert - vom Recht auf einen Kitaplatz bis zur Erwerbsquote. Das Problem liegt (auch) woanders. Es bedarf eines Umdenkens bzw. einer Veränderung von Haltungen und eingeschliffenen Mustern: Kindererziehung und Care-Arbeit sind kein „Gedöns“ (Ex-Bundeskanzler Schröder), und sie sind vor allem nicht Frauensache, sondern gesellschaftliche Aufgaben, die Männer und Frauen angehen. Das im Jahr 2020 erwähnen zu müssen, erscheint mir anachronistisch und seltsam. Eigentlich könnte gerade jetzt ein Bewusstsein für Rollenbilder und –verteilung wachsen, doch stattdessen sind starke Tendenzen weiterer Retraditionalisierung erkennbar. (2)

Dass die Belange von Familien und insbesondere Kindern in den letzten Monaten zu kurz gekommen sind, zeigt sich exemplarisch darin, dass die Familienministerin nicht Mitglied im Corona-Kabinett ist. Viel zu spät kamen (oder kommen gar erst) die Bedürfnisse von Kindern in den Blick. Auch hierzu gibt es erste Studien. (3) Viele Kinder kommen demnach relativ gut mit der Situation zurecht. Andere aber nicht. Das betrifft einerseits die (hoffentlich wenigen!), die verstärkt Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind und denen durch den Wegfall von Betreuungs- und Freizeitangeboten außerhäusliche Alternativen fehlen. Jede und jeder einzelne von ihnen bedarf besonderen Schutzes. Das betrifft andererseits die vielen, die in der persönlichen und schulischen Entwicklung massiv gestört werden. Auch hier sei wiederum eine subjektive Bemerkung erlaubt: Kommentare der letzten Monate, Eltern sollten sich nicht so anstellen, dass sie sich einmal um ihre Kinder kümmern müssten, gehen an der Wirklichkeit vorbei und drohen zynisch zu werden. Zahlreiche Eltern und Kinder konnten der gewonnenen gemeinsamen Zeit Gutes abgewinnen und das ist eine wichtige Erfahrung. Aber zugleich stellt die Situation, in der so viele verschiedene Ansprüche und Aufgaben zu vereinbaren sind, eine enorme Belastung und Überforderung für Familien dar, und diese Überforderung steigt, je größer die ökonomische Unsicherheit ist.

Auch und gerade hier werden vorhandene Ungleichheiten massiv verstärkt: Ausgangsbeschränkungen lassen sich leichter ertragen, wenn ein eigenes Kinderzimmer und ein Garten vorhanden sind (3, S. 22), und Homeschooling erfordert eine technische Ausstattung (ein Smartphone reicht nicht aus, sondern Computer und Drucker mit Scanner sind nötig!) und wird erleichtert, wenn Eltern die Kinder unterstützen können. Die Ungleichheit der Bildungschancen, die für Deutschland bereits vor der Krise kennzeichnend waren, droht massiv vergrößert zu werden, und sie wird weitreichende Auswirkungen haben, wenn dem nicht schnell entgegengewirkt wird. Hinzu kommen psychische Folgen durch fehlende Sozialkontakte und Hobbies, die sich jedoch derzeit noch nicht abschätzen lassen.

Die Probleme der Geschlechter- und der Chancengerechtigkeit hier sind groß. Sie sind noch größer und folgenreicher in anderen Ländern, v.a. im globalen Süden. Heute, am Welttag gegen Kinderarbeit, sei – stellvertretend für viele Probleme – auf die prekären Arbeitsbedingungen von Kindern (aber auch von Frauen) weltweit hingewiesen, die auch mit uns zu tun haben, weil sie auch jene Produkte herstellen, die wir am Ende konsumieren. Es ist zu erwarten, dass die Corona-Krise die Kinderarbeit verstärkt. (4) Die Bewältigung der Pandemie darf also nicht dazu führen, diese vermeintlich fernen Probleme zu verdrängen. Konkret heißt das etwa: Die Krise ist kein Grund, das geplante Lieferkettengesetz zu verschieben, sondern ein Grund, es jetzt auf den Weg zu bringen.

 

(1) Vgl. u.a. Bünning, Mareike; Hipp, Lena; Munnes, Stefan, Research Report  —  Published Version. Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona, 9. April 2020; Die Mannheimer Corona-Studie: Schwerpunktbericht zu Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung.

(2) Vgl. Allmendinger, Jutta, Familie in der Corona-Krise. Die Frauen verlieren ihre Würde, in: ZEIT vom 12. Mai 2020.

(3) Vgl. DJI, Wie sich die Corona-Krise auf Kinder und Eltern auswirkt, 18. Mai 2020.

(4) Vgl. ZEIT online, Corona-Krise verstärkt Kinderarbeit, 12. Juni 2020.

Weichenstellungen II - In welcher Welt wollen wir leben?

Manche der aktuellen Protestler, so heißt es, fürchten eine neue Weltordnung. Was immer sie darunter verstehen – ich wünschte, wir wären auf dem Weg zu einer in vielerlei Hinsicht neuen Weltordnung: gerechter, solidarischer, nachhaltiger.

  • Viele Millionen Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, „Tagelöhner“, haben weltweit ihren Job verloren. Gleichzeitig brechen weitgehend die sogenannten Rücküberweisungen weg. Das ist das Geld, das Migrant*innen in ihre Heimatländer überweisen, um die Familie zu unterstützen. Im Jahr 2018 waren das nach Angaben der Weltbank etwa 529 Milliarden US-Dollar! (1)
  • Allein in Indien gibt es 140 Millionen Wanderarbeiter. Die meisten von ihnen haben ihre Arbeit verloren und versuchen, in ihre Dörfer zu gelangen – in überfüllten Bussen oder zu Fuß mit Kindern in großer Hitze.
  • Mehr als 1000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden aus den USA nach Mexiko ausgewiesen, einige hundert von Mexiko nach Mittelamerika. Sie sind nicht nur dem Virus schutzlos ausgeliefert, sondern vielen Formen der Gewalt, bis hin zu Menschenhandel und Prostitution. (2)
  • Weltweit verschlechtert sich die Situation von Geflüchteten, weil sie kaum Aufnahme finden und weil die Lager und Aufnahmestellen vernachlässigt werden, so dass sich das Virus gemeinsam mit anderen Krankheiten ausbreitet und die Menschen noch weniger Perspektiven haben als vorher.
  • In vielen Ländern ist der Hunger zur größten Gefahr geworden. Und mit ihm wächst die Angst ums Überleben. Lokale Initiativen helfen, so gut sie können, z.B. #Vincenthelps auf den Philippinen, die wie viele NGOs auf Spendengelder angewiesen sind.
  • Im globalen Süden geht der lockdown vielerorts mit harten Strafen einher für diejenigen, die dagegen verstoßen, selbst wenn sie es tun, um zu überleben. Vorhandene autoritäre Tendenzen verfestigen sich und es ist nicht zu erwarten, dass sie nach der Pandemie einfach verschwinden. Die Demokratie ist in vielen Ländern massiv gefährdet. Gut, wenn es Stimmen gibt, die dagegen Stellung beziehen und die Menschenrechte verteidigen, wie etwa die katholische Universität in El Salvador. (3)

Die Liste lässt sich fortsetzen. Was soll das, könnte man fragen. Wie gehen wir mit jenen Zahlen um, die uns überfordern? Es liegt nahe, sie reflexartig wegzuschieben, weil wir es ja ohnehin nicht ändern können, da es sich vor allem um strukturelle Probleme handelt…

Doch individuelle und strukturelle Verantwortung gehen – wie eigentlich immer – miteinander einher, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Denn nein, wir können nicht die Welt retten, und es geht auch nicht darum zu moralisieren. Doch Weichenstellungen hin zu einer gerechteren und solidarischeren Ordnung sind nur herzustellen, wenn wir uns vom Leid der anderen berühren lassen und uns nicht einrichten in unserem Kokon des Selbstmitleids. Hinter Zahlen stehen Menschen mit Ängsten und Hoffnungen und mit Geschichten, die erzählt werden müssen, damit jene Menschen und ihre Lebenswirklichkeiten wahrgenommen und nicht vergessen werden. In diesem Moment, da die ganze Welt sich tatsächlich in einer Krise befindet – im ursprünglichen Wortsinn der Zuspitzung in einer Situation, in der eine Entscheidung nötig ist – muss jede/r für sich, müssen Regierungen, internationale Organisationen, müssen letztlich alle die Entscheidung treffen, ob diese Situation im Alleingang bewältigt werden soll oder gemeinsam.

Manches deutet darauf hin, dass – wieder einmal – jedes Land für sich versucht, das Beste herauszuschlagen: Nicht einmal in Europa scheint derzeit ein Konsens über einen Wiederaufbauplan (4) erreichbar.

Gleichzeitig wird in dieser Zeit besonders deutlich, dass alle Menschen und dass alle Systeme verletzbar sind. Die geteilte Verletzbarkeit könnte zum Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses von Solidarität werden. Denn sie zeigt Verbundenheit und Ähnlichkeit auf, die trotz aller Unterschiede bestehen. Sie könnte dazu führen, dass wir aus der Erfahrung des geteilten Menschseins und der geteilten Verletzbarkeit füreinander eintreten und füreinander da sind. Das Leid der anderen, die die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben, könnte zum Impuls zum Handeln füreinander werden.

Benjamin Schwab, El Salvador, schreibt dazu: „Ich fürchte die Kluft zwischen Nord und Süd wird nach Corona noch tiefer sein. Und ich fürchte, dass diese neue und verschärfte globale Notlage in der Post-Corona-Euphorie des Nordens mit der Wiederöffnung der Einkaufsmeilen und dem Ankurbeln der Konjunktur untergehen wird. Wenn die Gesellschaften des Nordens bereits heute eines aus der Krise gelernt haben, dann wohl den Wert der Solidarität. Jedoch nur wenn es gelingt, diese Solidarität aus ihrer nationalen Kurzsichtigkeit zu heben und, im Kontext einer globalen Verantwortung auf die ganze Menschheit auszuweiten, werden wir als Menschheit wirklich aus der Krise gelernt haben. Ignacio Ellacuría mahnt an, dass die Gesellschaften der sogenannten Industrieländer sich nicht mit der Einhaltung der Menschenrechte schmücken können, wenn diese Rechte effektiv nur einem geringen Teil der Weltbevölkerung zukommen. ´Es ist die Menschheit, die frei sein muss und nicht einige wenige Privilegierte der Menschheit, seien dies Individuen, soziale Schichten oder Nationen.´“ (5)

Mut, Kreativität und Entschiedenheit werden nötig sein, um die Krise zu überwinden – vom Engagement der Einzelnen bis hin zum Nachdenken über Schuldenschnitte in der Weltgemeinschaft mit ihren Staaten und Organisationen. Theologie und (Welt!-)Kirche hätten einiges dazu beizutragen, wie Solidarität neu zu denken und umzusetzen sein könnte. An die Arbeit!

 

(1) Vgl. World Bank, Migration and Remittances, April 2019, 1.

(2) Vgl. UNICEF, Se multiplican los peligros para los niños migrantes.

(3) Vgl. Editorial UCA, Derechos humanos y pandemia.

(4) Vgl. dpa/Zeit online, Deutschland und Frankreich schlagen Wiederaufbauplan für EU vor, 18. Mai 2020.

(5) Ignacio Ellacuría, „Utopie und Prophetie“, in: ders./Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Exodus Verlag, Luzern 1995, 383-431.

 

Auf den Straßen

Die Gruppen, die in Stuttgart, Dresden und anderswo zur Zeit auf die Straße gehen, sind bunt zusammengesetzt und es eint sie wohl nur, dass sie „irgendwie“ gegen die Corona-Politik sind.  Einem Teil der Demonstrierenden ist an einer ernsthaften Auseinandersetzung gelegen. Sie äußern Kritik oder haben Bedenken, über die man sprechen und die man vor allem anhören sollte. Nicht alle sind Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten oder Antisemiten. Aber solche sind auch ein Teil der Proteste, sie beeinflussen oder instrumentalisieren sie. Das macht es kompliziert! Es wäre ratsam, genau hinzuschauen, hinter welches Banner man sich im Protest stellt oder vor welchen Karren man sich spannen lässt.

Denn bei aller Berechtigung von politischem Protest, ist für die Demokratie problematisch, was hier geschieht. (1) Problematisch ist die Absage an eine an Sachlichkeit und Argumenten orientierte Vernunft, die von manchen Plakaten oder aus Videos spricht. Wie wollen wir ernsthaft miteinander reden und uns sachlich auseinandersetzen, wenn nicht auf Grundlage jener Vernunft? Wie wollen wir so Gesellschaft gestalten? Es ist notwendig, und ich habe persönlich den Anspruch, andere Menschen ernst zu nehmen – mit ihren Perspektiven und Ansichten, mit ihren Nöten und ihrer Kritik, auch wenn sie seltsam erscheinen. Das ist jedoch schwierig oder unmöglich, wenn Menschen nicht vernünftig argumentieren wollen. Bei allem Verständnis für die Sehnsucht nach Komplexitätsreduzierung und einfachen Antworten ist es doch nötig, nach guten Gründen suchen, sie sachlich zu begründen und abzuwägen, auch wenn es anstrengend ist. Das wird jedoch nochmals erschwert durch die starke gesellschaftliche Polarisierung, in der die einen den anderen so fremd werden, aber auch durch die hochdrehende Empörungsspirale: Es ist nicht förderlich, auf Empörung mit Empörung zu reagieren, sondern es verstärkt die Spaltung. Zwar ist es sinnvoll und nachvollziehbar, sich abzugrenzen und Position zu bekennen, doch ein wenig Gelassenheit und Besonnenheit tun not, damit die Aufmerksamkeit von Verschwörungsmythen auf tatsächliche Probleme gelenkt werden kann, die es gibt und die bearbeitet werden müssen. (2)  

Sorgen bereiten mir aber auch und vor allem einige Parallelen zu den rechtspopulistischen Bewegungen vor fünf Jahren. Damals wie heute verschwimmen die Begriffe von Protest und Kritik. Kritik an der Politik ist legitim – selbst dann, wenn noch keine genaue Vorstellung besteht, was „das Richtige“ ist. Auch Protest kann daher eine Form von Kritik sein. Das Falsche, das einmal erkannt und bestimmt ist, kann mit Adorno bereits als Index des Besseren aufgefasst werden. (3) Allerdings muss dem – durchaus wichtigen – Moment der Empörung die Reflexion folgen. Ohne Reflexion keine Kritik.

Damals wie heute ist zudem eine große Selbst-Bezogenheit festzustellen. 2015 fühlten sich die Demonstrierenden durch die Migrationspolitik in ihrer Selbstbestimmung und letztlich in ihrer Würde verletzt. Doch das Würdekonzept, das unserer Verfassung zu Grunde liegt, meint nicht nur meine Würde, sondern es ist die Würde aller – auch der anderen. Und diese ist zu achten. Nun ist es die Freiheit, deren Verletzung beklagt wird. Und ja, es wurden Freiheitsrechte eingeschränkt. Doch es hinterlässt einen schalen Geschmack, wenn nur auf die eigene Freiheit und das eigene Recht gepocht wird, denn meine Freiheit muss mit der Freiheit der anderen vereinbar sein. Und sie darf nicht auf Kosten der anderen gehen. Es ist sehr wohl notwendig darüber zu diskutieren, wie sich für die nächsten (vielen) Monate Freiheit und Schutz vor Corona vereinbaren lassen. Und in diesem notwendigen Diskurs möchte ich die Begriffe, die die Grundlage unserer Demokratie darstellen, wie Freiheit und Grundrechte, nicht denen überlassen, die sie einseitig und eigenwillig interpretieren. Man sollte die Äußerungen der Protestierenden ernstnehmen, sich aber nicht vor ihnen hertreiben lassen und die Sorge um die Freiheit in ihren grundgesetzlichen Rahmen zurückführen.

Und schließlich: Jeder Protest und jede Kritik, die nicht auch selbstkritisch sind, bleiben mir suspekt. Vieles ist derzeit unklar, sodass wir etwas bescheidener sein sollten und uns nicht selbst ins Recht setzen sollten. Vernunft und Besonnenheit, Bescheidenheit und der Blick für die anderen wären wichtige Pflöcke, die das Diskursfeld abstecken, in dem Freiheit und Solidarität verhandelt werden können.

(1) Vgl. dazu auch Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Jan Sternberg, In einer Demokratie muss diskutiert werden, FR vom 18.05.2020.

(2) Vgl. Prantls Blick: Demonstrationen in bizarren Zeiten, Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2020.

(3) Hier und an anderen Stellen Bezug zu: Becka, Michelle, Kritik und Solidarität, in: Becka/Emunds/Eurich/Kubon-Gilke/Meireis/Möhring-Hesse, Sozialethik als Kritik, Stuttgart 2020 (im Erscheinen).

 

Die Rechnung

An dieser Stelle ging es vielfach um die sozialen Auswirkungen der Pandemie. Heute soll es um die ökonomischen Folgekosten gehen, die selbst wiederum soziale Auswirkungen haben. Es werden keine konkreten Finanzierungsmodelle diskutiert (1), sondern es geht um Gerechtigkeitsüberlegungen, die in der Ausgestaltung zu berücksichtigen sind – bei aktuellen Staatshilfen für Betroffene und hinsichtlich der zukünftigen Finanzierung eben dieser Maßnahmen.

Die Bundesregierung hat sehr schnell finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt und wird dies auch noch weiterhin tun (müssen). Die erste Gerechtigkeitsfrage stellt sich an dieser Stelle: Werden alle in der Weise berücksichtigt, wie es erforderlich ist oder bekommen diejenigen am meisten, die die beste Lobby haben? Müssten aus Gerechtigkeitsgründen alle gleich behandelt werden? Gerecht zu handeln besagt nicht immer, alle gleich zu behandeln. Die Gleichbehandlung hat Vorrang, aber es kann gute Gründe geben, bestimmte Personen und Gruppen, situativ oder dauerhaft, ungleich zu behandeln (z.B. Bedürftigkeit, Leistung u.a.). Diese Kriterien gilt es abzuwägen. Da Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, sind nur die zu unterstützen, die wirklich Hilfe benötigen. Nicht alle benötigen jetzt Unterstützung vom Staat. Daher braucht es dringend Mechanismen, die den Missbrauch der Maßnahmen und unnötige Förderungen verhindern. Das betrifft Einzelpersonen, v.a. aber Unternehmen. Ein Vorbild könnte Dänemark sein. Dort erhalten Unternehmen, die ihren Sitz in Steueroasen haben oder Dividenden ausschütten können, keine Staatshilfe. (2) Staatliche Förderung kann dann denen zukommen, die es nötig haben. Mit John Rawls gesprochen sollte die Ungleichbehandlung denjenigen den größten Vorteil bringen, die am meisten benachteiligt sind. (3) So berechtigt also Überlegungen sind, wie die Wirtschaft „anzukurbeln“ ist, um den Kostendruck nicht zu groß werden zu lassen, so notwendig ist es, die besonders benachteiligten Gruppen im Blick zu behalten und besonders zu fördern.

Auch Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft durch die Schaffung von Anreizen müssen begründet werden und im Einzelfall gerechtfertigt sein. Die aktuelle Diskussion über Kaufprämien – etwa für Autos – zur Förderung des Konsums hält Gerechtigkeitsabwägungen nicht stand. Zum einen ist nicht vernünftig zu begründen, warum der Kauf von Autos unterstützt werden sollte, andere Produkte hingegen nicht. Zum anderen kommen hier weiter reichende Gerechtigkeitsdimensionen ins Spiel, v.a. die Umweltgerechtigkeit. Denn die Reflexion unseres Handelns bezieht sich nicht nur auf die soziale Interaktion, sondern auch auf deren Folgen für die Umwelt. Statt den Kauf von Autos zu fördern, sollte nur das unterstützt werden, was den Kriterien der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes genügt. Die Corona-Krise darf kein Alibi für die Nichteinhaltung der Klimaschutzziele sein. Vielmehr müssen längerfristige staatliche Konjunkturhilfen auch die grüne Transformation anschieben. (4)

Der horizontalen Ausdehnung der Gerechtigkeit entspricht eine zeitliche: die Generationengerechtigkeit. Sie ist nicht nur eng mit der Umweltgerechtigkeit verknüpft, sondern sie muss auch unsere Überlegungen zur Finanzierung der Kosten mitprägen: Welche Umweltschäden hinterlassen wir nachfolgenden Generationen – und welche Schulden? Die „schwarze Null“ ist ein Politikum, und es ist kaum objektiv zu bestimmen, wie viel Neuverschuldung sinnvoll ist. Ein gewisser Grad an Neuverschuldung wird nötig sein, doch zugleich dürfen die Probleme nicht einfach auf nachfolgende Generationen abgewälzt werden.

Wer aber zahlt dann die Rechnung? Auch hier gilt: Es dürfen nicht alle gleichermaßen belastet werden – etwa durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Diejenigen, die durch Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust betroffen sind oder die als (Solo-)Selbständige keine Aufträge mehr erhalten, dürfen nicht zur Kasse gebeten werden. Diejenigen hingegen, die keine Einbußen hatten, können mehr zur finanziellen Bewältigung beitragen. Weil sie mehr leisten können, sind sie auch stärker verpflichtet – oder anders gesagt: Sollen setzt Können voraus. Es wird also eine Besteuerung höherer Einkommen, eine Art „Solidaritätszuschlag“ für Besserverdienende oder eine neue Variante einer „Vermögenssteuer“ kommen müssen. Wie das genau aussehen könnte und welche Einkommensgrenzen und Regelungen geltend gemacht werden, ist politisch auszuhandeln. Das ist nicht einfach, aber nötig.

Und es ist auch nötig, dies über den nationalen Tellerrand hinaus zu organisieren – vielleicht ja mit einem neuen Anlauf zu einer Finanztransaktionssteuer. Denn in der globalisierten Welt im Allgemeinen, innerhalb der EU im Speziellen machen Gerechtigkeitsfragen nicht an den Nationalgrenzen halt. Für die EU könnte diese Gerechtigkeitsfrage zur Gretchenfrage werden. Aus Gründen des Eigeninteresses und aus Gründen der Solidarität, zu der sich die EU ja bekennt, ist hier gemeinsames Handeln erforderlich. (5) Ansonsten ist der Weiterbestand der EU ernsthaft bedroht.

 

(1) Überlegungen finden sich bei den Wirtschaftsinstituten verschiedener wirtschaftspolitischer Ausrichtung und sie gehen weit auseinander. Vgl. etwa das gewerkschaftsnahe DIW oder das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

(2) Vgl.  Hecking, Mirjam, Bedingungen für Corona-Hilfen in Dänemark, in: Managermagazin vom 20.04.2020.

(3) Vgl. Rawls, John, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, 336.

(4) Vgl.  Kemfert / Schäfer / Semmler, Die Corona-Krise darf nicht mit der Befeuerung der Klimakrise bezahlt werden, in: Der Makronom.

(5) Inwieweit das durch das Urteil des BVerG nochmals erschwert wird, kann an der Stelle nicht diskutiert werden, vgl. die Pressemitteilung des BVerG vom 05. Mai 2020. Neben möglichen Folgen für die Politik der EZB wird es aber vermutlich weitreichende Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Länder der EU haben.

Nicht alles in einen Topf, bitte! Die Notwendigkeit der Differenzierung

Es gibt einen allgemeinen Trend zu Polarisierungen, und er zeigt sich auch in den Diskussionen über die Pandemie, ihre Eindämmung und die Frage der Lockerungen. In reflexartiger Empörung werden Positionen in einen Topf geworfen, die sich stark unterscheiden – etwa wenn sachliche Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit bestimmter Maßnahmen mit schrillen Äußerungen, die alles für unnötig und autoritär halten, in eins gesetzt werden. Sie zeigt sich auch in der Skandalisierung von Wolfgang Schäubles Aussagen zum Lebensschutz, sowie in der Gleichsetzung seiner Äußerungen mit denen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Doch beide unterscheiden sich wesentlich – nicht nur in Tonfall und Stil.

Im Tagesspiegel-Interview am 26.04. sagt Wolfgang Schäuble: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ (1) Für diese Aussage erntete Schäuble Empörung und den Vorwurf, er gebe den Lebensschutz auf. Er gibt aber nicht den Lebensschutz auf, sondern er sagt, dass der Lebensschutz nicht absolut gelten kann. Und das ist richtig. (2) Erinnern wir uns etwa an die kontrovers geführte Debatte zur Organspende: Gäbe es eine absolute Geltung des Lebensschutzes, bräuchten wir diese Debatte, bei der die Selbstbestimmung sogar über den Tod hinaus angenommen wird, gar nicht zu führen: Selbstverständlich müssten wir Verstorbenen Organe entnehmen, um das Leben anderer zu retten. Es ist hilfreich, sich die Unterscheidung zwischen der negativen und positiven Dimension des Lebensrechts, dem der Schutz korrespondiert, bewusst zu machen: Die negative besagt, dass es ein Recht gibt, nicht getötet zu werden, und das gilt absolut. Von daher verbietet sich etwa die Ex-Post-Triage. Das positive Recht zu leben, mahnt von staatlicher Seite Unterstützung an, Leben zu ermöglichen. Es ist ein wichtiges Recht, kann aber angesichts von Krankheit und Tod nicht garantiert werden, es gilt daher nicht absolut. (3) Absolut hingegen gilt die Menschenwürde, denn sie ist den Grundrechten vorgelagert. Es ist wichtig, dass Schäuble daran erinnert, denn der Schutz der Menschenwürde kam in den Diskussionen der letzten Wochen häufig zu kurz (4) – nicht nur aber auch mit Blick auf menschenwürdiges Sterben.

Boris Palmers Argumentation ist eine andere: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ (5). Dass der Tonfall der Aussage Menschen verletzt, ist eine Sache, dafür hat er um Entschuldigung gebeten. Doch seine Argumentation bleibt auch darüber hinaus ambivalent und sie ist gerade nicht dieselbe wie Schäubles. Wenn ein Politiker eine solche Formulierung benutzt, stellt er einen gesellschaftlichen Grundkonsens in Frage, nach dem die Menschenwürde nicht an Alter oder Gesundheit gebunden ist. Und auch wenn der Lebensschutz nicht absolut gilt, so ist seine relative Geltung ernst zu nehmen, und sie lässt keine einfachen Schlüsse zu, ihn den einen zu gewähren und den anderen zu verweigern. Zwar gibt es dilemmatische Entscheidungen im ärztlichen Handeln, aber die situativ zu treffende Entscheidung erlaubt keine Formulierung allgemeiner Handlungsregeln oder gar Prinzipien. Wie sollten solche auch aussehen? Kein Lebensrecht für alle mit schweren Vorerkrankungen oder für die, die voraussichtlich nur sechs Monate zu leben haben, oder vielleicht doch zwölf? Das lässt sich ethisch nicht begründen und ist verfassungsrechtlich problematisch.

Nach Palmers eigener Aussage möchte er auf das Problem aufmerksam machen, dass durch die Nebenfolgen von allzu strikten Maßnahmen an anderer Stelle Menschen sterben könnten. Das ist ein berechtigtes Anliegen. Dass er als Beispiel sterbende Kinder in Afrika heranzieht, bringt ihn in argumentative Not, weil er das (vorhandene!) Problem, dass ihnen nicht geholfen wird, nicht überzeugend zur (Nicht-)Behandlung von alten Menschen hier in ein kausales Verhältnis setzen kann. (6) (Das kann auch nicht gelingen, weil es keinen direkten Zusammenhang gibt.) Das Problem ist, dass er rein ökonomisch argumentiert – auch hinsichtlich des von ihm angemahnten Schutzes der sogenannten Risikogruppen, der eigentlich der Ermöglichung der Wirtschaftsabläufe dienen soll. Die Folgen eines „Wegsperrens“ von Risikopatient*innen für diese, sowie die Frage der Menschenwürde finden keine Beachtung. Im Gegenteil: Die Betroffenen werden instrumentalisiert für das Funktionieren des wirtschaftlichen Systems. Seine Argumentation kann daher nicht überzeugen.

Berechtigt ist gleichwohl die Frage, die er aufwirft: Wie können wir angesichts von COVID-19 über eine vermutlich lange Zeit hinweg das gesellschaftliche Leben aller und die dafür nötigen materiellen Grundlagen – also sehr wohl auch die Wirtschaft – angemessen gestalten? Die Diskussion darüber ist notwendig und darf nicht durch Empörung oder diskursiven Eintopf unterbunden werden.

 

(1) Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen. Interview im Tagesspiegel vom 26.04.2020.

(2) Vgl. dazu auch Bischof Overbeck auf domradio.de, der Schäubles Position zustimmt.

(3) Vgl. Eberhard Schockenhoff im MDR online.

(4) Vertiefend: Heumann, Michael/Holzgang, Milena, Die Stunde der Verfassungsgerichte.

(5) Boris Palmer in einer Pressemeldung „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ vom 29.04.2020 auf WELT online.

(6) Vgl. Markus Lanz im ZDF vom 30.04.2020.

 

Schöne und noch schönere Nebensachen der Welt - Gastbeitrag von Katharina Leniger

Ein Satz von Markus Söder in der Pressekonferenz vom 23. April 2020 mit Winfried Kretschmann in Ulm ließ mich aufhorchen: „Der Fußball hat – zumindest bei den meisten Menschen (…) – schon auch eine psychologische Wirkung und ich glaube, dass es an manchen Wochenenden das Leben nicht erschwert, sondern erleichtert, dass Fußball stattfinden könnte (...)“. (1)

Zugegeben, es ist nicht die Frage, ob Fußball stattfinden kann oder nicht, die einem als Sozialethikerin in der aktuellen Situation als drängendstes Problem erscheint. Und doch wird an der Causa einiges deutlich: Auch im Sport wird abgewogen und ja, vor allem geht es um sehr viel Geld. Die Fußballvereine, die großen und die kleinen, stehen still und aktuell ist nicht klar, wie es hier weitergeht. Lösungsmöglichkeiten werden viele diskutiert, von der Deutschen Fußball Liga, von Politiker*innen, von Fangemeinschaften, von TV-Sendern und Streamingportalen. Mit Hilfe von über 20.000 Tests, einer Maskenpflicht und in so genannten Geisterspielen soll der Fußball wieder zur schönsten Nebensache der Welt werden.

Anders das Thema Kunst und Kultur, hierüber wurde lange von Seiten der Politik geschwiegen. Zwar gibt es seit einiger Zeit Soforthilfen, zunächst für drei Monate, und daneben Zusagen, man werde Kunstschaffende auch weiterhin unterstützen. (2) Vom Bund etwa, konkret von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, wurden für freie Ensembles und Orchester nun insgesamt 5,4 Millionen Euro zur Verfügung gestellt - und sollen auch zur Erschließung von alternativen "Präsentations- und Vermittlungsformaten" dienen. (3) Schließlich brechen für Musiker*innen, Schauspieler*innen und andere aktuell fast alle Einnahmen weg, wenn auch nicht gleichermaßen. Man weiß sich zu helfen mit Unterricht via online-Formaten, YouTube-Konzerten oder virtuellen Filmpremieren – selbst die Oscars reagieren inzwischen. (4) Und doch wird auch hier die Coronapandemie ihre Opfer fordern, nämlich unter denen, die nicht fest in einem der großen Orchester angestellt sind, unter denen, die kleine bis mittlere Häuser betreiben, beispielsweise Kinos, Galerien, Museen und Theater ohne institutionelle Anbindung, unter denen, die im Rahmen von Festivals und Großveranstaltungen im Sommer ihr Jahreseinkommen als Techniker*innen oder Fotograf*innen verdienen würden. Denn ein Problem der Pandemie wird wohl bleiben: Großveranstaltungen – von denen man noch immer nicht weiß, wie viele Menschen genau ein Event zu einer großen Veranstaltung machen – werden auch über den 31. August hinaus unwahrscheinlich bleiben. Konkret heißt das: Auf der kulturellen Bühne bleiben die Lichter aus. Besonders prekär: Die meisten Kulturschaffenden verdienten auch vor Corona nicht genug, um große Rücklagen zu bilden. Mit Kunst wird man nur selten auch in monetärer Hinsicht reich.

Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die Soforthilfen ihre Tücken haben: Im föderalen Flickenteppich fallen durch Überprüfung des Vermögens und der Einnahmen der anderen in der Bedarfsgemeinschaft Lebenden viele durch das Raster der Kriterien. Geld gibt es meist auch nur für laufende Betriebsausgaben und Personalkosten von Angestellten. Künstler*innen, die in Vorleistung gingen und solo-selbständig arbeiten, können ihre finanziellen Ausfälle dadurch nicht geltend machen. Darüber hinaus ist es für den Erhalt von Mitteln aus Soforthilfen meist notwendig, Mitglied in der Künstlersozialkasse zu sein. (5) In manchen Bundesländern waren die Kassen der Soforthilfe schnell leer. Für viele bleibt dann Hartz-IV. (6)

Dabei gerät jedoch aus dem Blick, dass die kulturellen Angebote und Events keineswegs so homogen sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Nicht immer ist Kultur in diesen Zeiten ausschließlich online möglich. So können drei durchzechte Nächte bei Rock im Park nicht mit einem Museumsbesuch, Konzerte in ausreichend großen und belüfteten Räumen mit Mindestabstand nicht mit Filmpremieren in kleinen Arthousekinos verglichen werden. Es gäbe Mittel und Wege, Lösungen für einige Events zu finden – und die Kreativität ist groß. (7) Gerade für die besonders betroffenen Newcomer und kleinen Betriebe wäre das gerade jetzt überlebenswichtig.

Das Hauptproblem, das bei den Reden vom Geld leicht ins Hintertreffen gerät, bleibt jedoch und es ist diesen Veranstaltungen und Berufen gemein: Sie werden als „nebensächlich“, nicht „systemrelevant“ betrachtet. Kulturschaffende müssen mit anderen Akteuren des scheinbaren „Amüsements“ um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Politik buhlen: Mit dem Sport, insbesondere dem Fußball, und den Religionsgemeinschaften – so sieht es ein Zusammenschluss von Klassik-Festivals. (8) Dabei verbietet es sich eigentlich, darum streiten zu müssen, wer wichtiger für die Gesellschaft ist.

Der Mensch ist Sozial- und Kulturwesen. Die Frage, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft mit Corona weiterentwickelt, muss auch einschließen, was passiert, wenn wir Kunst und Kultur nur noch online und nur noch im so genannten „Mainstream“ konsumieren. Unweigerliche Folge ist der Wegfall der großen kulturellen Vielfalt. Kunst und Kultur werden oft als schönes Beiwerk (9) verstanden, sie haben jedoch auch demokratietragenden, kritischen Charakter. Gesellschaft tut gut daran, sie nicht nur in der Funktion des Genusses, sondern der eines systemkritischen Hinterfragens am Leben zu halten. Dafür braucht es zeitliche Perspektiven, gesellschaftliche Wahrnehmung und nicht zuletzt klare Signale für politische Unterstützung über längere Zeiträume.

 

(1) Dazu ein Kommentar von Bernhard Neuhoff „Söders Schweigen zur Kultur: unverständlich“  auf BR Klassik online vom 20.04.2020.

(2) Vgl. Bischoff, Kristina, „Absagen wegen Corona: Wer rettet die Kultur?“, Pressemeldung auf NDR Info online am 17.03.2020.

(3) Vgl. Brachmann, Jan, "Initiative von Monika Grütters. Bund will freie Ensembles und Orchester retten", FAZ online am 29.04.2020.

(4) Vgl. „Academy lässt Streaming-Filme zu den Oscars 2021 zu“, Pressemeldung auf Süddeutsche online am 29.04.2020.

(5) Vgl. Capriccio vom 28.04.2020, BR online.

(6) Vgl. Briegleb, Till, „Hilfe für die Kultur: Frust, Wut und Fassungslosigkeit“, SZ online vom 15.04.2020.

(7) Vgl. Kilb, Andreas, „Vor dem Ersticken. Zwischen Biergarten und Bordell: Wie die Kultur bei der Corona-Bekämpfung den Kürzeren zieht", FAZ Feuilleton online vom 17.04.2020.

(8) Vgl. „Klassik-Festivals für Gleichbehandlung mit Sport und Kirchen“, Pressemeldung auf FAZ online vom 22.04.2020.

(9) Vgl. Pressemeldung vom 27.04.2020 über eine Ansprache von Papst Franziskus, Domradio online.

Weichenstellungen I - In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Oft hört man derzeit, die Krise sei eine Chance. Stimmt, manchmal ermöglicht die krisenhafte Unterbrechung des Gewohnten den Anbruch von etwas Neuem – sei es, weil es den nötigen Raum erhält, um sich eigenständig zu entwickeln oder sei es aus purer Notwendigkeit. Die digitale Innovation (etwa in der digitalen Lehre) gehört sicher zu den positiven Erträgen dieser Zeit.

Auch anderes kann sich in neuer Weise entwickeln – aber nicht von allein. Veränderung benötigt Rahmenbedingungen und eine aktive Gestaltung. Die Weichen dazu müssen jetzt gestellt werden. Das gilt für viele Bereiche, ich greife nur Beispiele heraus.

Gesundheitssystem. Das deutsche Gesundheitssystem ist im internationalen Vergleich gut aufgestellt. Das kann jedoch nicht über die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitssektors hinwegtäuschen. Das Fallpauschalensystem (DRG), nach dem nicht die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen im Mittelpunkt stehen, sondern der betriebswirtschaftliche „Nutzen“ eines Falles, (1) Arbeitszergliederung (Minutenpflege) und schlechte Arbeitsbedingungen zur Kostendämpfung sind nur einige Folgen der Durchkapitalisierung des Gesundheitswesens. (2) Die Folge ist häufig die Dominierung medizinischer Rationalität durch eine ökonomische, die v.a. durch Gewinnorientierung gekennzeichnet ist. (3) Der Ökonomisierungsdruck lastete in den vergangenen Jahren auf den Ländern noch höher, die starken Austeritätsforderungen unterworfen waren: Spanien und Italien gehören dazu. Es wäre nicht legitim und unterkomplex, hier einfache Kausalitäten zu den hohen Zahlen an Corona-Patient*innen herzuleiten. (4) Gleichwohl zeigt sich in der Krise, dass die Ressourcenausstattung des Gesundheitswesens für die Bewältigung der Pandemie eine zentrale Rolle spielt. Wenn es nun darum geht, Weichen für die Zukunft zu stellen, darf nicht wieder vergessen werden, dass der Gesundheitssektor zur zentralen Daseinsvorsorge gehört. Diese kann nicht mit Gewinnmaximierung erreicht werden, sie muss sich nach den Bedarfen der Patient*innen richten – und sie muss vom Staat gewährleistet werden.

Wirtschaft. Der wirtschaftliche Einbruch hat für viele katastrophale Folgen, v.a. für Geringverdiener und alle, die jetzt ihre Arbeit verlieren. Das ist nicht zu relativieren, und der Zunahme vorhandener Ungleichheiten muss nicht nur durch Soforthilfe, sondern auch mittelfristig entgegengewirkt werden. Darüber hinaus müssen wir uns aber die Frage stellen, wie wir unser Wirtschaftssystem gestalten wollen. Einfach zurück in die alten Strukturen und Abläufe ist nicht die richtige Option. In der Krise zeigt sich die Verletzbarkeit des Wirtschaftssystems auf neue Weise. So wurde in den vergangenen Monaten deutlich, welche Abhängigkeiten nationaler Volkswirtschaften durch unsere globalisierten Arbeitsabläufe bestehen. Die Erkenntnis von Verletzbarkeit und Abhängigkeiten, die Erfahrung von Lieferengpässen, die Rolle von Staaten wie China und den USA u.a. haben die Frage nach der Deglobalisierung lauter werden lassen. (5) Es geht weder um eine abstrakte Frage, ob sich Globalisierung rückgängig machen lässt, noch um den politisch meist schrillen Ruf nach Abschottung! Aber es sollte uns wieder bewusst werden, dass Globalisierung gestaltbar ist. Und auch in einer vernetzten Weltwirtschaft können und sollten Teile des Wirtschaftens regional erfolgen. Wir sollten überlegen, welche das sein sollen und wie das sozial und ökologisch verträglich erfolgen kann. Vorüberlegungen gibt es reichlich. Jetzt wäre der Zeitpunkt, sie aufzugreifen, weiterzuentwickeln und umzusetzen.

Das bringt uns zum letzten Punkt. Klimawandel. Ja, vielleicht war durch den weltweiten Shutdown die Luft kurzfristig ein wenig sauberer. Doch das hemmt noch nicht den Klimawandel. Im Gegenteil: Das ist die noch größere Krise, und die Bewältigung dieser Krise ist ebenfalls dem Shutdown erlegen, weil die politische Auseinandersetzung darüber zum Stillstand gekommen ist. Der Klimawandel kann jedoch nur abgemildert werden, wenn wir jetzt Maßnahmen ergreifen. Weichen stellen für die Zukunft heißt auch, hier ähnlich konsequent zu handeln wie im Kampf gegen das Virus.

 

(1) Vgl. Rakowitz, Nadja, Krankhäuser et al.: „Der Markt“, in:  Dtsch Arztebl 2020; 117(10): A-508 / B-437.

(2) und (4) Vgl. Hagedorn, Jonas, Neue Herausforderungen: Das Corona-Virus und die europäischen Gesundheitssysteme, Frankfurter Arbeitspapiere, März 2020, S. 8 f.

(3) Vgl. weiterführend die Arbeit der AG Ökonomisierung der Akademie für Ethik in der Medizin, sowie diverse Stellungnahme des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärtze (vdää).

(5) Vgl. Saxer, Marc, Weltwirtschaft nach Corona. Das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen, Spiegel Wirtschaft online vom 11.04.2020.

 

Unsichtbar

Jedes Kind kann Sars-CoV-2 malen – das Bild des Virus ist allgegenwärtig. Für unser Auge ist das Virus unsichtbar. Erst mit dem Mikroskop wird es sichtbar gemacht, und es ist auf diese Weise Teil unserer Wahrnehmung und Wirklichkeit geworden.

Die Frage nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist im Umgang mit der Pandemie wichtig. Was sehen wir, was nicht? Die Frage ist relevant in Bezug auf unser Wissen, die Folgen des Virus – und v.a. die Menschen.

Unser Wissen scheint gut sichtbar zu sein – in Zahlen, Kurven und Statistiken. Tatsächlich machen Modelle o.ä. etwas sichtbar. Doch das sind keine objektiven Wahrheiten, wie es manchen wohl erscheint, sondern es handelt sich um das, was der Name besagt: Modelle. Modelle und Zahlen sind notwendig und erhellend, aber sie bilden nicht einfach Wirklichkeit oder Wissen ab. Wissenschaftler*innen ist das gewöhnlich klar, aber es lässt sich schwer kommunizieren. Zudem gibt es Wissen und Wahrscheinlichkeiten, die sich nicht so gut abbilden lassen: Wir wissen, dass es Zusammenhänge zwischen Vereinsamung und Krankheit, Armut und Krankheit etc. gibt. Aber was das genau in dieser Krise bedeutet, oder gar, wie man es darstellen könnte, wissen wir nicht. Wissen ist nicht einfach da, es wird diskursiv hervorgebracht. Es ist gut, dass wieder parlamentarisch gestritten wird. Denn das verschiebt Diskursgrenzen und damit auch die Grenzen dessen, was sichtbar und wahrnehmbar ist. Dadurch kann das in den Blick geraten, was bislang übersehen wurde. Was wissen wir nicht, welches Wissen ist (noch) nicht sichtbar?

Und das führt zu der gravierendsten Frage der Unsichtbarkeit: Wer ist unsichtbar und wer wird unsichtbar gemacht? Seit Beginn der Krise wurde erwartet, dass häusliche Gewalt ansteigen wird. Verlässliche Daten dazu gibt es noch nicht. Das Bild ist uneinheitlich, teilweise sind für den Monat März sogar Rückgänge zu verzeichnen. (1) Das bedeutet jedoch nicht, dass es tatsächlich weniger Gewalt gibt, sondern lediglich weniger Anzeigen. Die Dunkelziffer kennen wir nicht. Das Fehlen belegbarer Zahlen sagt nicht aus, dass es diese Gewalt nicht gibt. Unsichtbar bleibt auch vieles andere: Die Einsamkeit vieler Alleinstehender, die häufig verbunden ist mit Angst und Verunsicherung, insbesondere, wenn sie Risikogruppen angehören. Wir sehen auch (noch) nicht, was es mit Kindern macht, wenn sie nicht in die Schule gehen, keine Freund*innen treffen, keinen Sport machen. Es fehlt der Ausgleich für den vermehrten Konsum von Computerspielen, Videos – und vieles mehr. Menschen mit Behinderungen oder Mehrfacherkrankungen sind völlig aus unserem Blickfeld verschwunden, weil sie zu ihrem Schutz zu Hause bleiben. Was macht das mit ihnen, aber auch mit einer Gesellschaft, wenn sogenannte „Risikogruppen“ unsichtbar werden? 

Wer aus der Öffentlichkeit und aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet, dessen/deren Schutzlosigkeit nimmt zu.

So what? - um Nguyen Kim zu folgen… (2) Es zeichnet sich ab, dass wir noch recht lange mit Abstandsregeln verschiedener Art leben werden müssen. Daher ist es dringend erforderlich, die Folgen der Maßnahmen für die, die derzeit in ihrem Zuhause und anderswo unsichtbar sind, wahrzunehmen und Schutz- und Teilhabekonzepte aufzubauen. Und es ist – das gilt für uns alle – notwendig, immer wieder die Grenzen des Sichtbaren und Unsichtbaren zu verschieben. Nicht nur das sichtbar Gemachte ist wirklich.

 

(1) https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/frauenhaus-gewalt-corona-krise-100.html.

(2) Vgl. die MaiLab Videos von Nguyen Kim, beispielsweise https://www.youtube.com/watch?v=3z0gnXgK8Do.

 

Ausnahmezustand. Ein Wort aus dem globalen Süden - Gastbeitrag von Benjamin Schwab

Nationaler Notstand, Kriegsrecht, Einschränkung von Grundrechten, Grenzschließungen, Ausnahmezustand. Regierungen auf der ganzen Welt haben in den vergangenen Wochen und Monaten entsprechende Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung von Covid-19 in ihren Gesellschaften so weit wie möglich einzudämmen.

So hat auch El Salvador am 11. März den nationalen Notstand ausgerufen und wenige Tage später den Ausnahmezustand (span.: „estado de excepción“).

Dass ich ausgerechnet auf El Salvador zu sprechen komme, hat zwei Gründe. Zum einen lebe ich mit meiner Familie seit nunmehr einigen Jahren in dem kleinsten Staat Mittelamerikas und arbeite am theologischen Institut der hiesigen Jesuitenuniversität (UCA). Zum anderen ist El Salvador tragischer Weise exemplarisch für viele typische Problemlagen eines sogenannten Entwicklungslandes. Der 1989 von einem Militärkommando ermordete spanisch-salvadorianische Jesuit und Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría pflegte zu sagen, El Salvador sei wie ein Brennglas, in dem sich die Probleme und Leiden der Welt bündeln. (1)

Das Land, das hinsichtlich seiner Fläche und Bevölkerung (rund 6,5 Millionen) ziemlich genau den Dimensionen von Hessen entspricht, hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Seit Jahren werden im Durchschnitt zehn Menschen pro Tag ermordet. Besonders gravierend ist die Situation der Gewalt gegen Frauen. Dem zugrunde liegen eine historisch extrem ungleiche Verteilung des Reichtums in der Gesellschaft und eine konfliktreiche Geschichte. Der Großteil der Bevölkerung lebt in extremer Armut und jährlich machen sich Hunderttausende auf den gefährlichen Weg in Richtung USA auf der Suche nach einer Zukunft. Hinzu kommen Naturkatastrophen.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund das Ausrufen des landesweiten Ausnahmezustandes aufgrund der Covid-19-Pandemie?

Hier muss vorab gesagt werden, dass lediglich rund 25% der Menschen in El Salvador in einem formalen Beschäftigungsverhältnis sind und Anspruch auf eine minimale Grundsicherung (Krankenversicherung, Rente) haben. Die verbleibenden 75% arbeiten im vorrangig städtischen informellen Sektor (Straßenhändler, informelle Dienstleistungen) oder in der Subsistenzlandwirtschaft.

Für die erste Gruppe bedeutet Ausnahmezustand, ähnlich wie in Deutschland, panikartige Hamsterkäufe (Toilettenpapier), ekstatische Weltuntergangsphantasien und Verschwörungstheorien in sozialen Netzwerken, Home-Office, Netflix, Lagerkoller.

Für die zweite Gruppe aber, und damit für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, bedeutet das Gebot „Bleib zu Hause!“ eine Prekarisierung der ohnehin schon prekären Lebensrealität,  ganz konkret, einen dramatischen Anstieg an häuslicher Gewalt und Hunger. Die inhumane Wohnsituation in den Armensiedlungen, wo kinderreiche Familien auf engstem Raum zusammenleben, macht die Quarantäne unerträglich. Zudem leben die meisten Familien in El Salvador „von der Hand in den Mund“, d.h. von den spärlichen Einnahmen des Tagesgeschäfts. Fällt dieses aufgrund der Ausgangssperre aus, bleibt am Abend der Teller leer.

Jeder Ausnahmezustand bezieht sich per definitionem auf einen irgendwie gearteten Normalzustand. Im diesem konkreten Fall beinhaltet der Ausnahmenzustand eine Suspension von in der salvadorianischen Verfassung verankerten Grundrechten, unter anderem die Bewegungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Inwiefern kann man jedoch von einem Ausnahmezustand sprechen in einer Gesellschaft, in der sich die Mehrheit der Bürger auch unter „normalen“ Umständen nicht frei bewegen kann aus Angst vor Straßengangs, Polizei und Militärs, in der das Grundrecht auf einen würdigen Wohnraum nur auf dem Papier existiert und das Recht auf Wasserversorgung nicht einmal dort? Eine Ausnahme von welcher Regel besteht hier?

Man kann diesen de facto permanenten Ausnahmezustand, im Sinne des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben verstehen, als einen rechtsfreien Raum, der „seine raumzeitlichen Grenzen überschritten hat, sich außerhalb dieser ausbreitet und nun beginnt, sich mit der normalen Ordnung zu überschneiden, in der nun wieder alles möglich wird.“ (2)

All dies schmälert keineswegs die Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie, auch nicht in El Salvador. Die frühe und drastische Reaktion der Regierung auf die drohende Seuche ist zweifellos zunächst einmal begrüßenswert. Wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenken kann, so ist die Gefahr einer massiven Ausbreitung des Virus im Land vorerst weitgehend gebannt, die Kurve abgeflacht. Das mögliche Szenario einer größeren Infektionswelle möchte man sich angesichts eines desolaten Gesundheitssystems mit landesweit lediglich 200 Intensiv-Betten nicht ausmalen.

Doch die Salvadorianer sind Schreckensszenarien gewohnt. Und so scheinen viele es vorzuziehen die strikten Quarantäneregeln, trotz drastischer repressiver Maßnahamen von Seiten des Staates (30 Tage Quarantänelager zur Strafe), zu brechen und sich der Infektionsgefahr auszusetzen, um wenigstens ein paar lebensnotwendige Dollar verdienen zu können.

Die Diskussion um die Beibehaltung der Kontaktsperre gegenüber einer schrittweisen Rückkehr des öffentlichen Lebens, wie sie aktuell in vielen Ländern des Nordens geführt wird, hat im globalen Süden eine ganz eigene Brisanz. Es geht hier nicht vorrangig um die Abwägung, wie lange bestimmte Wirtschaftszweige einem „total lockdown“ standhalten können, schließlich sind die Volkswirtschaften hier permanent im Krisenmodus. Es gilt vielmehr, paradoxerweise, Menschenleben gegen Menschenleben aufzuwiegen, denn es ist zu befürchten, dass sehr viele Menschen an den wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise erkranken und sterben werden, vielleicht sogar mehr, als durch das Virus selbst. Was bedeutet es hier von Lebensschutz zu sprechen? Während sich der reiche Norden in Krisenhysterie übt, können sich viele Länder im globalen Süden das „flattening the curve“ schlichtweg nicht leisten. Sie leben, in den Worten des portugiesischen Soziologen und prominenten Vertreters der dekolonialen Theorie, Boaventura de Sousa Santos, schlichtweg „südlich der Quarantäne“. (3)

So bedrohlich die Covid-19-Pandemie in Europa und Nordamerika sein mag, so ist sie in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas lediglich ein Übel mehr, neben Kriegen, Gewalt, Vertreibung, Hunger, Armut, Malaria, AIDS, Dengue-Fieber (4) und anderen. Und während zu erwarten ist, dass die Industrienationen, Schritt für Schritt, zu einer gewissen Normalität zurückkehren werden, besteht kaum ein Zweifel daran, dass der Ausnahmezustand im globalen Süden noch lange anhalten und sich gar verschärfen wird.

 

Nachweise:

(1) Mündliche Quelle, Jon Sobrino, S.J., Universidad Centroamericana José Simeón Cañas (UCA), El Salvador.

(2) Giorgio Agamben, Homo sacer. Sovereign power and bare life, Stanford University Press, Stanford, California, 1998, 28.

(3) https://blogs.publico.es/espejos-extranos/2020/04/07/al-sur-de-la-cuarentena/.

(4) Lateinamerika hat im Jahr 2019 mit mehr als 3 Millionen registrierten Fällen die schwerste Dengue-Epidemie seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt.

 

Who cares?

Applaus ist super! Ich meine das ganz ironiefrei. Es ist schön, wenn dem Pflegepersonal von Balkonen applaudiert wird oder in anderen Zeichen Dankbarkeit und Wertschätzung zum Ausdruck gebracht werden. Es handelt sich um eine Form von Anerkennung – Wertschätzung und Anerkennung für den besonderen Beitrag, den Einzelne und Gruppen für die Gesellschaft leisten. Dass Anerkennung gleichermaßen wichtig für die Akteure selbst wie auch für den Fortbestand der Gesellschaft als Ganzer ist, ist weithin akzeptiert. (1) Für den sozialen Zusammenhalt wäre freilich wichtig, dass diese Anerkennung immer spürbar ist, nicht nur punktuell – es muss ja nicht immer Applaus und Schokolade sein.

Mit dem Applaus von Politiker*innen für Pflegende verhält sich das etwas anders. Pflegenden für besondere Leistungen in schwierigen Zeiten zu danken, ist auch hier zunächst ein nettes Zeichen. Aber das reicht nicht. Im Gegenteil – diese Art der Anerkennung wird schnell scheinheilig und schal. Denn es ist Aufgabe der Exekutive und Legislative, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Pflegende gut arbeiten können. Bleibt das aus, müssen Einzelne Probleme lösen, die strukturell bedingt sind – und das ist moralisch unzulässig. Wie soll man etwa gute pflegerische Arbeit leisten, wenn es einfach zu viele sind, die man zu betreuen hat? Wenn diejenigen, die sich darum bemühen zu Helden erklärt werden, ist das zynisch. Einzelne, so gut sie auch arbeiten, können nicht die Fehler des Systems lösen. Anerkennung statt Heroisierung bedeutet also auch und vor allem monetäre Anerkennung (mehr Lohn!) und Schaffung von Bedingungen, die gutes Arbeiten ermöglichen.

Das ist nicht leicht. Die Lage in vielen Pflegeheimen ist miserabel. Pflegekräfte fehlen ohnehin schon lange, nun fallen weitere aus oder die vorhandenen sind besonderer Gefährdung ausgesetzt, etwa, weil Schutzkleidung fehlt. „Aus ethischer Sicht schulden wir es den Menschen, deren Erkrankung nicht geheilt werden kann, Leiden so gut wie möglich zu lindern.“ (2) Doch eine menschenwürdige Behandlung der Menschen in Pflegeeinrichtungen ist derzeit an vielen Stellen kaum zu leisten. Das Problem ist groß, aber mit politischem Willen lösbar. Personal aus teils verwaisten Stationen in Kliniken könnte Abhilfe schaffen, um nur ein Beispiel zu nennen. Doch das ist nicht möglich, weil die Grundlage für eine Vernetzung fehlt. (3) Viele Maßnahmen sind erforderlich, um die Pflege zu entlasten – und die monetäre Anerkennung muss auch noch Thema sein, wenn der Applaus abgeklungen ist. Es ist also von staatlicher Seite für die zu sorgen, die Sorge tragen.

Who cares? Im englischsprachigen Raum gehört auch die „pastoral“ oder „spiritual care“ zur Sorge-Arbeit, nicht nur die Pflege im engen Sinn (den häuslichen Bereich der Sorge-Arbeit lasse ich hier außen vor). Auch Seelsorgerinnen und Seelsorger sind Care-Giver, Sorge Tragende, es ist daher nötig, dass auch sie in diesen Zeiten für die Menschen sorgen können. In einigen Einrichtungen und Bundesländern ist das möglich, in anderen nicht. „Lasst die Seelsorger rein“, hieß es kürzlich treffend: „Seelsorge ist unverzichtbar, weil sie Menschen auffängt, wo wir Mediziner es nicht mehr können. Deshalb gehen unsere Seelsorger auf die Intensivstation und sind auch für Mitarbeiter da.“ (4) Seelsorger*innen sind Teil der Teams in der Pflege – Seelsorge ist Teil der Professionalität. Und die Seelsorger*innen werden jetzt besonders gebraucht: in der Einsamkeit von Pflegebedürftigen, im Sterbeprozess, von Angehörigen, von überlasteten Mitarbeiter*innen. Es ist theologisch und ethisch dringend geboten, auch diese Art von Care zu ermöglichen.

 

(1) Dazu verschiedene Werke von Axel Honneth, einführend etwa: Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert.

(2) Netzwerk Ethik in der Altenpflege, Coronavirus und die Altenpflege: Ethische Herausforderungen und dramatische Mängel, FR vom 18.04.2020.

(3) Vates, Daniela, Interview: Das ist auf Sand gebaut, FR vom 17.04.2020.

(4) Evelin Finger, Lasst die Seelsorger rein, ZEIT vom 15.04.2020.

Was ist das Ziel? Handeln angesichts von Nicht-Wissen

„Soviel Wissen über unser Nichtwissen und den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“, so Jürgen Habermas im FR-Interview vor Ostern (1). Menschen können handeln, also zielgerichtet tätig sein, um etwas zu tun oder zu unterlassen. Menschen müssen auch handeln, da sie sich ständig in Entscheidungssituationen wiederfinden. Gute Entscheidungen erfordern eine Sachgrundlage, also Wissen. Je fundierter die Grundlage, desto „richtiger“ ist eine Entscheidung. Das bedeutet freilich nicht, dass eine Vielzahl von Fakten – und die Beachtung der Sachlogiken unterschiedlicher Disziplinen –  Entscheidungen leichter machen, im Gegenteil. Doch die Schwierigkeit enthebt nicht von der Verantwortung, solide Grundlagen für Entscheidungen zu schaffen. Manche Entscheidungen müssen getroffen werden angesichts von Nichtwissen, auch das erfahren wir gegenwärtig: Die Pandemie ist auch deshalb so bedrohlich, weil es sich um ein neuartiges Virus handelt, über das kaum Wissen vorhanden war – und immer noch ist. Auch das Wissen, dass jetzt generiert wird, ist vorläufig.

Wie also Handeln angesichts von Nichtwissen? Um gute Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, wäre es nötig, im akademischen Kontext die verschiedenen Konflikte und in Frage stehenden Güter noch stärker interdisziplinär zu diskutieren und abzuwägen – in Anerkennung der Perspektivität und Begrenztheit der einzelnen Zugänge.  

Politisch Verantwortliche sollten diese Diskussion zur Kenntnis nehmen, um dann eigene Abwägungen vorzunehmen und besonnen zu entscheiden. Vielfach wird die Bundesregierung – auch im Ausland – derzeit für Besonnenheit bei der Ergreifung der Maßnahmen gelobt.  Und doch stellen sich angesichts der aktuellen Exit-Strategien Fragen, weil das Ziel der Maßnahmen nicht hinreichend klar ist.

War es zu Beginn der Krise noch das Absenken der Kurve, scheint das aktuelle Ziel zu sein, die (effektive) Reproduktionszahl R deutlich unter 1 zu halten. Doch zum einen ist dieses Ziel selbst in epidemologischer Hinsicht gar nicht so eindeutig: Müsste der Lockdown weitaus länger andauern, um die Reproduktionszahl R zu senken, so weit es geht (2)? Wenn ja, wie lange? Oder erhöht eine zu geringe „Durchseuchung“ die Gefahr einer massiven zweiten Covid-19-Welle im Herbst?  Zum anderen ist die Senkung von R ja nicht das eigentliche Ziel. Wir werden auf längere Zeit mit diesem Virus leben müssen, sodass mittelfristig wirksame und machbare Maßnahmen erforderlich sind. Das Niedrighalten von R soll die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Doch weiterführende Fragen werden zu wenig gestellt: Wie wahrscheinlich ist die Gefährdung desselben, wenn R den Wert x übersteigt? Und vor allem: Welche weiteren Maßnahmen gibt es, eine Überlastung des Systems zu verhindern? Und ist die Maxime, die Überlastung zu verhindern, tatsächlich die einzige, um Lebensschutz, um den es ja eigentlich geht, zu gewährleisten? Welche Maßnahmen dienen dem Lebensschutz und welche Maßnahmen gefährden – v.a. bei längerer Dauer – Leben verschiedener Personengruppen? (Vgl. die Beiträge vom 07.04. und 16.04.) Woraufhin wird also „gelockert“? Die Fragen sind zu klären und die Maßnahmen müssen der veränderten Situation Rechnung tragen – aus ethischen und rechtlichen Gründen:

„Die grundrechtliche Rechtfertigung der mit einer Lahmlegung öffentlichen Lebens verbundenen massiven Freiheitseingriffe mit Hinweis auf die besondere durch die Coronavirus-Pandemie herbeigeführt Situation hat als ihr Korrelat die grundrechtliche Pflicht des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Grundrechtseingriffe auch unter Berücksichtigung des vom Staat zu schützenden Rechts auf Leben und Gesundheit anderer möglichst schnell aufgehoben oder gelockert werden können.“ (4)

Es gibt also eine positive Verpflichtung des Staates, die Grundlagen dafür zu schaffen. Regierungshandeln muss jetzt nicht nur reaktiv, sondern – auch angesichts von Unwissen und Unsicherheit – aktiv sein, um die „Voraussetzungen dafür zu schaffen, ein verantwortliches Leben mit dem Virus möglichst freiheitskompatibel gestalten zu können.“ (5) Aktiv heißt aber nicht aktionistisch – die Frage nach dem Ziel des Handelns darf nicht aus dem Blick geraten.

 

(1) Habermas über Corona, Interview.

(2) Schumann, Florian, Corona-Lockerungen: Wenn das schiefgeht, war vieles umsonst.

(3) und (4) Kumm, Matthias, Gegen Obrigkeits­staatliche Tendenzen in der Krise. Massive Freiheitseingriffe und deren Grundrechtliche Rechtfertigung auf verfassungsblog.de.

Glokale Gesundheit - Gastbeitrag von Johannes Ulrich

Das Virus ist auf dem Vormarsch und gerade bei Menschen mit Risikofaktoren nimmt die Erkrankung nicht selten einen schweren, tödlichen Verlauf. Die WHO und das RKI sprechen längst von einer der „ansteckendsten Erkrankungen“ (1) und blicken voll Sorge auf die weiter steigenden Zahlen. Die Rede ist hier vom Masernvirus (wir erinnern uns fern an die Debatten um Impfflicht und -gegner aus vorpandemischen Zeiten), welches in der Tat nicht nur eines der ansteckendsten, sondern auch ein überaus tödliches Virus ist. Das gilt besonders in von Unterernährung und Vitamin-A-Mangel betroffenen Regionen der Demokratischen Republik Kongo, wo man gerade jetzt einen neuen Masernausbruch verzeichnet (2). Die Basisreproduktionszahl des Virus liegt hier bei 12-18 („einer steckt 12 andere an“). Zum Vergleich: die Basisreproduktionszahl von SARS-CoV-2 lag ohne Kontaktsperren bei 2-3. Und gerade in einem Land wie der DRK, das neben SARS-CoV-19 Infektionen und nach einer gerade überwunden geglaubten Ebola-Epidemie nun auch hier wieder die ersten Positivfälle berichtet (2), dürfte der jetzige Masernausbruch verheerende Folgen haben.

Gleichzeitig anderswo: Donald Trump entzieht der WHO wenigstens für 60 Tage seine (finanzielle) Unterstützung. Und auch wenn so manche Kritik an der Organisation berechtigt sein mag, wird dieser symbolische Akt vor allem zwei Folgen haben: Der chinesische Einfluss in der WHO wird weiter steigen. Und die Situation in den Ländern, die auf das Geld der WHO angewiesen sind, um beispielsweise Kühlketten für Impfstoffe aufrecht zu erhalten, wird sich weiter verschärfen.

Immer wieder war im Laufe dieser Krise die Rede davon gewesen, dass eine Krise auch eine Chance sei. In der Realität ist davon aber wenig zu sehen: Kurzfristige Reaktionen lassen den Eindruck einer Verwaltung der Krise entstehen, wo es – aller Schwierigkeiten zum Trotz – einer Gestaltung bedürfte. Der Blick für die Chance scheint getrübt, unser „Möglichkeitssinn“ geschwächt. Bei Robert Musil meinte der Möglichkeitssinn die Fähigkeit, „alles, was ebensogut sein könnte, zu denken“ (4). Der Möglichkeitssinn lässt sich auf die Gegenwart ebenso beziehen wie auf die Zukunft: Wie wollen wir aus dieser Krise herausgehen? Und als wer? Was wollen wir erreichen?

Auch im lokalen Kontext stellen sich diese Fragen. So wird hierzulande zögerlich Kritik an der politischen und medialen Fixierung auf die Intensivmedizin laut. Denn in allen Szenarien und Überlegungen zu Deutschland ist sie die entscheidende Zahl: die Menge an „Beatmungsbetten“ auf den Intensivstationen der Republik. Dabei gilt es aber vor allem eine Sache zu bedenken: der Altersmedian der an Covid-19 verstorbenen Patienten liegt laut RKI bei 82 Jahren – und entspricht damit dem durchschnittlichen Sterbealter. Das soll auf keinen Fall ein Aufruf darstellen, nötige Hilfe zu unterlassen! Aber es soll an die Diskussionen der letzten Jahrzehnte um Patientenwillen, Hospiz- und Palliativbewegung und die Frage „Wie möchte ich leben und wie möchte sterben?“ erinnern. Heißt „das Virus zu bekämpfen“ wirklich, ihm so viele Erkrankten wie möglich um jeden Preis zu entreißen? „Der Tod ist kein Fremder“ gibt der Intensivmediziner Maxim Schneider mit Blick auf ältere, oft an vielen schweren Erkrankungen leidende Patienten zu bedenken (5). Und der Palliativmediziner Matthias Thöns kritisiert ganz offen die allgemeine Ausrichtung auf Maximalmedizin, die das Nichtschadensprinzip der ärztlichen Ethik in Gefahr bringe (6). Was hier – wie auch oben – zwischen den Zeilen durchschimmert, ist: Wir waren in diesen Fragen schon einmal weiter, als wir uns nun geben.

Wenn wir uns fragen, was wir in dieser Krise erreichen wollen, müssen wir uns auch fragen, was wir in den – zugegebenermaßen eingeschränkten – Handlungsräumen sehen wollen: Sind sie die Orte eines auferlegten Zugzwangs oder können sie eben nach wie vor Gestaltungsräume sein, in denen wir heute aktiv ein Morgen hervorbringen?

 

(1) https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html#doc2374536bodyText5

(2) https://www.nature.com/articles/d41586-020-01011-6

(3) https://www.newscientist.com/article/2240430-three-new-ebola-cases-detected-in-democratic-republic-of-the-congo/

(4) Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt, 2016.

(5) https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/menschen-sterben-immer

(6) https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488

Ach, Europa! Teil 2 – Noch mehr Probleme mit der Solidarität in Europa

In Folge der Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen droht eine wirtschaftliche Krise in Europa, und sie trifft Länder wie Spanien und Italien besonders. Eine gemeinsame europäische Antwort wäre jetzt ein echtes Zeichen der Solidarität – bleibt es aus, ist die EU in ihrem Fortbestand einmal mehr massiv gefährdet.

Aber es ist kompliziert! Die Kurzform: Die EU bietet Italien 39 Millionen Euro an – und Italien verschmäht sie. Worum geht es? Die europäische Geld- und Fiskalpolitik in der Krise hat verschiedene Standbeine: Zunächst wurden die Defizitregelungen des EU-Stabilitätspakts (erstmals) ausgesetzt und von der EZB durch ein umfangreiches Programm (das sogenannte PEPP, vgl. ECB Press Release) ergänzt. Diese Schritte erhalten weitgehende Zustimmung.

Der Streit entbrennt über die darüber hinausgehenden Maßnahmen „Coronabonds“ und ESM. Die 39 Millionen stammen aus dem europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Sie stünden sofort zur Verfügung, wären kein Geschenk, sondern ein Darlehen – allerdings ein günstiges Darlehen mit einer langen Laufzeit. Coronabonds hingegen sind Anleihen, also Schuldverschreibungen. Normalerweise leihen sich Staaten alleine Geld und zahlen es auch allein zurück. Der Haken: Gilt das Risiko, das Geld von einem Staat wiederzuerhalten, als hoch, steigen die Zinsen. Die Gefahr ist für Länder wie Italien folglich hoch. Daher ist die Idee der Coronabonds, das Risiko zu teilen: Die EU nimmt gemeinsam die Anleihen auf, stellt sie einem Land zur Verfügung und haftet gemeinsam für Rückzahlung und Zinsen. Damit sinkt das Risiko einer starken Zinssteigerung. Deutschland lehnt die Coronabonds – und mit ihnen die Idee einer „Vergemeinschaftung“ von Staatsschulden bzw. der Risiken – strikt ab.

Italien hingegen lehnt die Mittel aus dem ESM ab. Gründe sind, dass die Staatsverschuldung dadurch steigt, dass man eigentlich ein starkes Solidaritätszeichen von Europa erwartet, weil das Land unverschuldet in diese Lage geraten ist, und dass die Summe wohl nicht ausreichen wird. Und auch wenn das Geld aus dem ESM (anders als in der Finanzkrise!) ohne Auflagen erteilt werden soll, besteht die Angst, durch Rating-Agenturen herabgestuft zu werden. Hinzu kommt eine komplizierte innenpolitische Konstellation. Ob es klug gewesen wäre, die Mittel aus dem ESM anzunehmen und dennoch auf Coronabonds hinzuwirken, sei dahingestellt.

Auch unter Wirtschaftsexperten ist umstritten, ob Coronabonds ein sinnvoller Weg sind. Bemerkenswert ist jedoch, dass Ökonomen sehr unterschiedlicher Ausrichtung in einem gewissen Rahmen Gemeinschaftsanleihen unterstützen – gemeinsam könne die EU sich das leisten. „Jetzt ist der Mo­ment, wo die oft be­schwo­re­ne Schick­sals­ge­mein­schaft Eu­ro­pa Flag­ge zei­gen muss.“ (Hüther, Michael et al.) Auch der Aufruf "European Solidarity Now" fordert mehrgleisige Programme, darunter Corona- bzw. Healthbonds. Sie scheinen mittel- und langfristig nötig, um die Wirtschaft v.a. einiger Länder zu stützen – und damit auch die der gesamten EU.

Es ist ein gutes Zeichen, dass (wenn auch nach Anfangsschwierigkeiten) Deutschland Italien mit medizinischem Material unterstützt hat und dass PatientInnen aus Frankreich und Italien hier auf den Intensivstationen behandelt werden. Doch wir brauchen noch mehr europäische Solidarität. Die Forderungen des Aufrufs „European Solidarity Now“ gehören dazu. Das gegenwärtige Wiederaufrichten der europäischen Binnengrenzen begrenzt bildlich die europäische Solidarität. Auch wenn es verständlich sein mag, dass in der Krise der Nationalstaat die primäre Organisationseinheit ist, befremdet es, dass Europa in der Presseerklärung der Kanzlerin am 15.04. (erneut) gar nicht vorkam. Die Krise betrifft die EU, und sie sollte, neben kommunalen, regionalen und nationalen Maßnahmen, auch auf EU-Ebene diskutiert und gelöst werden. Jetzt muss sich die EU als Schicksals- und Solidargemeinschaft erweisen.

 

Literatur:

Gammelin, Cerstin, Corona-Bonds – und jetzt für alle, Süddeutsche vom 05.04.2020.

Jürgen Matthes / Markus Demary, IW Kurzbericht. Hilfsinstrumente gegen die Corona-Krise im Vergleich.

ECB Press Release  vom 18.03.2020.

Hüther, Michael et al., Europa muss jetzt finanziell zusammenstehen, Gastbeitrag der FAZ vom 21.03.2020.

European solidarity now, Gemeinsamer Aufruf.

Verletzbarkeiten

In einer Krise treten Phänomene und Eigenschaften, Störungen und Probleme, die bereits vorher bestanden haben, plötzlich deutlich hervor. So ist es auch gegenwärtig mit der Verletzbarkeit. In dem Moment, da sich etwas, nämlich das Virus, als nicht beherrschbar erweist, wird unsere Verletzbarkeit offenkundig: Wir haben nicht alles im Griff, wir sind gefährdet. Doch was bedeutet Verletzbarkeit, und wie ist mit ihr umzugehen? Verschiedene Ebenen sind zu unterscheiden.

Auf der Ebene des Individuums unterscheide ich im Anschluss an Hille Haker Verletzbarkeit als anthropologische von der Verletzbarkeit als moralische Kategorie. Dass Menschen verletzbar sind, ist zunächst eine sehr grundsätzliche (und ein wenig banale) Aussage über den Menschen. Aber wir verdrängen das gern, weil wir damit Schwäche, fehlende Souveränität, Schutzlosigkeit, Ohnmacht oder ähnliches verbinden. Die eigene Verletzbarkeit anzuerkennen, erscheint dann schnell als Absage an die Selbstbestimmung. Längst hat die Ethik jedoch diesen vermeintlichen Widerspruch überwunden, und es ist anerkannt, dass Menschen verletzbar und selbstbestimmt sind (und unsere eigene Vulnerabilität kann uns empfänglich machen für die Verletzungen anderer). Judith Butler nennt diese anthropologische Verletzbarkeit „Gefährdetheit“ – Precariousness. Und sie fordert, sie nicht zu verleugnen, sondern sie in ihren vielfältigen Formen anzuerkennen.

Zugleich erfordert sie auch Schutz. Denn: Alle Menschen sind verletzbar, aber unter manchen Umständen ist die Verletzbarkeit erhöht. Das kann durch eine Pandemie sein, wie wir es gerade erleben. Das kann geschehen, indem die einen die Verletzbarkeit der anderen ausnutzen. Und das kann schließlich durch Situationen und Strukturen geschehen, die unsere Verletzbarkeit nicht hinreichend schützen, sondern sie offenlegen und vergrößern, so etwa durch Armut oder auch unzureichende Gesundheitssysteme. Diese Vulnerabilität ist menschengemacht und kann daher als moralische bezeichnet werden – oder mit Butler als Precarity. Precarity verweist auf die politische Konstitution von Verletzbarkeit. Es handelt sich um eine Ungleichheit, die sozial hervorgebracht und reproduziert wird. Diese Mechanismen der Hervorbringung sind zu kritisieren und Precarity zu reduzieren.

Und schließlich gibt es eine Vulnerabilität von Systemen. Auch sie tritt gegenwärtig deutlich hervor. Die aktuelle Stellungnahme der Leopoldina unterstreicht (S. 7), dass das systemische Risiko, insbesondere die drohende Überlastung des Gesundheitssystems, der wesentliche Grund für die gesellschaftlichen Schutzmaßnahmen sei. Die hochkomplexen Systeme und Strukturen der ausdifferenzierten Gesellschaft sind höchst effizient – und zugleich verletzbar und bedroht.

  • Das gilt für einzelne Systeme, aktuell zeigt es sich deutlich in der Wirtschaft und im Gesundheitssystem. Wie kann mittelfristig die Resilienz von gesellschaftsrelevanten Systemen wie dem der Gesundheit gestärkt werden, damit sie ihre Funktion verlässlich erfüllen? Zur Beantwortung dieser Frage wird die zukünftige Ressourcenausstattung ebenso zu diskutieren sein wie die genaue Bestimmung der Funktion.
  • Das gilt für die Wechselwirkungen zwischen den Systemen. Aktuell werden zum Schutz des Gesundheitssystems andere Systeme (z.B. Wirtschaft) heruntergefahren, was durchaus für eine gewisse Zeit nötig sein kann. Gleichwohl greift die Entgegensetzung von „Leben schützen“ oder „Wirtschaft schützen“, meines Erachtens zu kurz, denn es geht nicht um „die“ Wirtschaft, sondern um Menschen, die ihre Existenzgrundlage verlieren. Armut ist ein Gesundheitsrisiko, dasselbe gilt für soziale Isolation, Perspektivlosigkeit etc. Den Wechselwirkungen zwischen den Systemen ist daher Rechnung zu tragen.

Dazu ist es allerdings nötig, die Systeme nicht als Selbstweck zu betrachten, sondern ihre Aufgabe vorrangig darin zu sehen, ein gutes und menschenwürdiges Leben für die Mitglieder der Gesellschaft zu ermöglichen. Dann reduziert der Schutz gefährdeter Systeme die Precarity von Menschen.

 

Literatur

Becka, Michelle, Gott im Knast. Machtvollen Spiralen der Verwundbarkeit befreiend begegnen, in: Keul, Hildegund/Müller, Thomas (Hg.), Verwundbar. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020, 177-187.

Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt 2005.

Haker, Hille, Vom Umgang mit der Verletzlichkeit des Menschen, in: Bobbert, Monika (Hg.), Zwischen Parteilichkeit und Gerechtigkeit. Schnittstellen von Klinikseelsorge und Medizinethik, 195-226.

Leopoldina, Dritte Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden.

Hoffnung - nicht nur zu Ostern

„Fürchtet euch nicht“, so lautet der Kern der Osterbotschaft. Es ist die Botschaft an die Frauen am Grab, es ist die Osterbotschaft in eine erschütterte Welt, so Bischof Kohlgraf in seiner Predigt in der Osternacht. Es ist eine Botschaft der Hoffnung, die für die Ethik – und für jedes Handeln – höchst relevant ist.

Hoffnung ist nicht Vertröstung auf eine ferne Zukunft, die allzu leicht über die Leiden und Ängste der Menschen hinweggeht. Von der Hoffnung geht vielmehr ein Impuls aus, der in der Gegenwart handlungsleitend und stärkend ist. Denn Hoffnung befreit zum Handeln, wie Gutiérrez, Moltmann und andere TheologInnen hervorgehoben haben. Sie gibt uns eine Idee davon oder erwägt die Möglichkeit, dass die Wirklichkeit auch anders sein könnte – und in diesem Horizont können wir versuchen Dinge zu gestalten. Hoffnung ist deshalb keine Träumerei, sie motiviert zum Engagement. Der Medizinethiker Giovianni Maio sagt: „Der hoffende Mensch ist das Gegenteil des blauäugigen Menschen. Zuversicht heißt: die Realität klar erkennen und dennoch die Offenheit der Zukunft als gegenwartsgestaltend anerkennen. Derjenige, der alles hinschmeißt, nimmt sich die Freiheit, die Zukunft zu gestalten.“ (Maio, Giovanni, Ein Mensch, der nicht hofft, verzichtet auf seine Freiheit, in: ZEIT Wissen Nr. 6/2016, 11.)

In den Zeiten der Pandemie ist die Gefahr der Lähmung groß. Alles scheint bedroht und gefährdet, die Vorsicht droht zur lähmenden Furcht zu werden. Doch auch wenn die Gefährdung menschlichen Lebens in dieser Zeit sichtbarer und deutlicher wird als in anderen Zeiten, wäre es unangemessen und falsch, in Fatalismus oder Resignation zu verfallen. Wenn wir uns von der Furcht lähmen lassen, vergeben wir die Chance, die Wirklichkeit zu gestalten. In Anerkenntnis der Verletzbarkeit (dazu der morgige Beitrag) sollten wir jetzt überlegen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Welche Solidaritätspotentiale, die in der Krise erkennbar werden, wollen wir kultivieren, und was ist dafür zu tun? Handeln im Horizont der Hoffnung garantiert keine Sicherheit, aber es verringert die Unsicherheit. „Hoffnung garantiert keinen guten Ausgang der Dinge. Hoffen heißt, darauf vertrauen, dass es sinnvoll ist, was wir tun.“ (Steffinsky, Fulbert, Was unsere Hoffnung nährt)

 

In memoriam passionis

Der Karamstag unterbricht alle gewohnten Abläufe. Er ist Unterbrechung, Schweigen, Nichtwissen. Auch die kritischen Überlegungen dieses Blogs sind heute unterbrochen. Und das Schweigen gibt der Compassion (Metz) Raum, weil theologische Ethik nicht nur um gute Gründe für richtiges Handeln ringt, sondern dabei die Menschen im Blick hat, vor allem die am meisten Benachteiligten und die Leidenden.

In memoriam passionis: der Sterbenden; der Kranken; der Trauernden, v.a. derer, die nicht Abschied nehmen können; derer, die Angst haben; der Erschöpften in der Pflege und anderen Berufen; derer, die nicht wissen, wie es weitergehen kann; der Verzweifelten; der Einsamen; der Opfer von Gewalt – und all der Anderen.

Ach, Europa! Solidaritätskrisen Teil 1

Von Habermas´ Buchtitel bleibt derzeit nur der Stoßseufzer. Die Visionen zur europäischen Integration, die seine Aufsätze im Erscheinungsjahr 2008 zumindest auch prägen, scheinen derzeit weit entfernt.

In den Vertragstexten der EU wird Solidarität als ein Grundwert genannt, der in der „verstärkten Zusammenarbeit“ seine Umsetzung findet. Solidarität erweist sich jedoch nicht erst seit der Corona-Krise, aber darin besonders deutlich, als ein „Schön-Wetter-Wert“, der das politische Handeln wenig prägt. Zur finanziellen Solidarität zwischen den EU-Ländern in einem anderen Beitrag – hier geht es um die fehlende Solidarität mit jenen Ländern innerhalb der EU, die Geflüchtete aufnehmen und mit den Geflüchteten selbst. Die Dublin-Abkommen weisen allein den Ländern im Süden Europas die Verantwortung für Asylverfahren zu. Dieses Grundproblem der Abkommen wurde nie behoben, selbst auf ein Quotensystem zur Verteilung der Geflüchteten auf die Länder der EU konnte man sich nicht einigen.

Nun leben allein auf den griechischen Inseln knapp 40.000 Geflüchtete, darunter etwa 15.000 Minderjährige. Griechenland damit allein zu lassen, diese Herausforderung zu bewältigen, ist schon allein ein Widerspruch zu jedem Bekenntnis zur Solidarität. Nun gab es angesichts der katastrophalen Zustände in den Lagern im März die Zusage europäischer Länder (nein, nicht etwa aller Länder der EU, sondern einer kleinen Koalition der Willigen), bis zu 1500 Minderjährige aufzunehmen. Jetzt sind es 62. 50 verspricht Deutschland aufzunehmen – mit der Ankündigung, dass es mehr werden, 12 Luxemburg. (Zu den Gründen, warum es 62 sind vgl. Bubrowski, Helene: Warum dürfen nur 50 Flüchtlingskinder einreisen? FAZ vom 08.04.2020) Ein Anfang, könnte man sagen. Ein trauriger Witz, könnte man ebenso sagen.

Die mangelnde Solidarität gefährdet das Leben von tausenden Menschen, die schon jetzt unter elenden Bedingungen leben: Eng gedrängt, unzureichend versorgt mit Lebensmitteln, krank, mit starken psychischen Belastungen, perspektivlos und unter miserablen hygienischen Bedingungen. Man muss kein Epidemologe sein, um sich ausrechnen zu können, was das Virus dort anrichten kann. (vgl. Meisner, Matthias: Die Kapitulation des Innenministeriums vor der AfD, Tagesspiegel vom 08. April 2020) „Lebensschutz“ findet nicht statt. Es ist ein Armutszeugnis für Europa, hier nicht einzugreifen und die Lager zu evakuieren – und ein Verrat an den sogenannten Grundwerten. Es fehlt der politische Wille, obwohl viele Akteure (v.a. Städte, siehe „Sichere Häfen“ der internationalen Bewegung Seebrücke) bereit wären, Menschen aufzunehmen.

Als Begründung zitieren viele Tageszeitungen heute den CDU-Chef von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht. Danach sei es derzeit absolut unangemessen und "politisch und gesundheitlich untragbar". Wenn das so gesagt wurde (gedacht wird es sicher), ist dem Kommentar von Markus Feldenkirchen zuzustimmen: „Wenn aber eine Regierung aus Angst vor einer Partei und einem Virus die eigenen humanitären Grundsätze verrät, scheint ihr Wertefundament nicht allzu stabil zu sein.“ (Feldenkirchen, Markus: Politik des kalten Herzens, Spiegel online vom 08. April 2020)

Angesichts des In-Kauf-Nehmens des Sterbens von Menschen im Mittelmeer und in den Lagern reicht der Stoßseufzer „Ach, Europa“ nicht mehr. Wichtig ist jetzt zu handeln, etwa in Kampagnen wie  #LeaveNoOneBehind: Jetzt die Corona-Katastrophe verhindern - auch an den Außengrenzen! Die Corona-Krise ist nicht nur eine Virus-Krise, sondern eine europäische Krise und eine Solidaritätskrise.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

„Wir sagen nicht ´social distancing´“, sagte mir kürzlich ein mexikanischer Kollege. „Wir sprechen von ´physischer Distanz´ und ´sozialer Kohäsion´.“ Richtig so, denn darum geht es ja. Der soziale Zusammenhalt ist auch bei uns vielfach spürbar: Menschen grüßen einander freundlich beim Spazierengehen und sind rücksichtvoll im Umgang miteinander; Nachbarschaftsinitiativen, Einkaufsdienste u.ä. sind überall in der Republik entstanden. Auf Aufrufe zur Unterstützung etwa von Kliniken melden sich viele Freiwillige, Studierende musizieren vor Altenheimen – viele Worte, Aktionen und Projekte tragen zu sozialem Zusammenhalt bei. Und jede einzelne dieser Aktionen ist bedeutungsvoll.

Wie überall gibt es auch eine Kehrseite – „Hamsterkäufe“ sind zum Sinnbild dafür geworden. Manche Erscheinungsformen sind wohl Ausdruck von Ängsten oder aufgestauter Aggressivität. Wo sie uns begegnen, empfiehlt sich Gelassenheit. Eine Gesellschaft kann einiges verkraften. Aber manches scheint mir doch problematisch, weil es an den Grundfesten einer freien und aufgeklärten Gesellschaft rüttelt.

  • Da ist zum einen eine „Blockwart“-Mentalität: Wenn ein älteres Paar spazieren geht und angeschrien wird „Abstand halten!“; wenn Menschen Angst haben müssen, dass der Besuch im Garten (mit Sicherheitsabstand) zum Anruf bei der Polizei führt oder der Gang vom Supermarkt nach Hause mit einer zweiten Packung Klopapier unter dem Arm zum Spießrutenlauf wird. Dann läuft etwas schief. Dann ist die Regel zum Selbstzweck geworden. Und in Selbstermächtigung erklärt sich Max Mustermann zum Hüter der Regel und maßt sich unzulässige Urteile an. (Vgl. dazu Maria Katharina Moser: Corona Krise – Ist Laufen überhaupt noch erlaubt?)
  • Da ist zum anderen eine massive Ausgrenzung. Ich muss gestehen, ich hielt es zunächst für ein Gerücht, weil ich es nicht glauben wollte. Doch die Erfahrungsberichte häufen sich: Pflegepersonal und ÄrztInnen, die sich um die mit dem Virus Infizierten kümmern, werden gemieden und ausgegrenzt. Menschen, die bis zur Erschöpfung für andere sorgen, werden nicht gegrüßt oder man wechselt gar die Straßenseite, wenn sie auf der Straße begegnen. Eine Intensivpflegerin erzählt vom Verweis aus dem Supermarkt durch Sicherheitspersonal, das von anderen Kunden gerufen wurde ("Ich wurde aus dem Supermarkt geworfen" - ZEIT online vom 07. April 2020). Bilder längst vergangen geglaubter Zeit von sozialer Stigmatisierung kommen in den Kopf – in einer aufgeklärten Gesellschaft hat dieses Handeln, das jeden Funken von Vernunft vermissen lässt, nichts zu suchen.

Wenn der Verdacht das Vertrauen ersetzt und die Vernunft außen vor bleibt, sind die Grundlagen der Gesellschaft gefährdet, und der Weg zur Gewalt ist nicht weit. Versuchen wir, dem etwas entgegenzusetzen!

Ein anderer Beitrag zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ökonomischer Art. Die wachsende Ungleichheit bringt unterschiedliche Verantwortung mit sich. Eine moralische Grundregel besagt, dass Sollen Können voraussetzt. Wer also in der Lage ist, etwas zu tun, hat auch eine größere Verantwortung. Das ist nicht nur ökonomisch zu verstehen – aber auch. Es bedeutet: Viele bangen jetzt um ihre Existenz, während wir anderen in der privilegierten Situation sind, Lohn oder Gehalt weiterhin zu beziehen und keinen Mangel zu leiden. Es geht hier nicht um die komplizierte Begründung moralischer Hilfspflichten, doch schon aus der genannten Regel folgt: Wer kann, sollte etwas tun. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Von der Unterstützung von lokalen Initiativen und Betrieben, über die Unterstützung etwa der Caritas in Deutschland bis hin zu den Hilfswerken, die auch über die Nationalgrenzen hinweg tätig sind.

Einsatz für sozialen Zusammenhalt kann also auf ganz unterschiedlichen Ebenen erfolgen – mit der freundlichen Begegnung fängt es an.

Lebensschutz

Der Schutz des Lebens ist zentrales ethisches Gut – auch und erst recht in einer christlichen Ethik. Und doch – oder gerade deshalb? – wundere ich mich derzeit ein wenig über das so häufig wiederkehrende Narrativ des Lebensschutzes. Wie oft habe ich mir in der Vergangenheit gewünscht, dass wir Leben schützen – von Kranken und Alten, indem wir für eine ordentliche Pflege sorgen, von Randgruppen oder gar von Geflüchteten diesseits und jenseits der Grenze! Die Rede vom Lebensschutz ist verständlich angesichts der Bedrohung durch ein Virus, über das wir immer noch wenig wissen. Und doch bleibt ein leises Unbehagen.

Lassen wir die Frage „Wessen Leben schützen wir?“ beiseite und damit auch die Gefahr, dass der Schutz des Lebens einiger (z.B. alter Menschen mit Vorerkrankung) das Leben anderer (z.B. psychisch Kranker, die nicht mehr betreut werden) gefährden kann.  Stellen wir die Frage: Welches Leben schützen wir? Und was bedeutet der Begriff Lebensschutz? Ohne Agambens „nacktes Leben“ bemühen zu wollen, scheint es um eine reduzierte Auffassung des Lebens zu gehen – nämlich nicht zu sterben. Ja, wenn es ernst wird, hängen wir ja auch an nichts so sehr wie am Leben. Und tatsächlich war das Leben vieler in den Pflegeheimen schon längst sehr reduziert, weil sie nie Besuch bekommen haben und kaum nach draußen gehen konnten. Nun gilt die Reduktion auf ein Minimum von Leben für viele mehr Menschen. Maßnahmen in Pflegeheimen schränken – zum Schutz der BewohnerInnen und zur Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems –restriktiv Kontakte ein, bis hin zur Begleitung von Sterbenden. (Vgl. dazu Dabrock und Mertes im Interview, "Die Hand halten oder nicht?", ZEIT online 1. April 2020)

Jedoch: Das Leben, das der Staat verpflichtet ist zu schützen, ist das menschenwürdige Leben. Menschenwürdig Leben bedeutet, sein Leben selbstbestimmt in Beziehung mit anderen zu gestalten – im Bewusstsein der eigenen Verletzbarkeit zu handeln und Fähigkeiten zu entwickeln. Es beinhaltet die Möglichkeit, sich verwirklichen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt die darin angesprochene Selbstbestimmung enorm aufgewertet. So umfasst nach dem Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 das Persönlichkeitsrecht als Ausdruck der Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben sowie das Recht, dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen. Persönlichkeitsrecht und Menschenwürde so stark auf die Autonomie engzuführen und den Schutz des Lebens so klar unterzuordnen, halte ich für sehr problematisch. Und jetzt, in der aktuellen Situation, geht es um Lebensschutz – und von Selbstbestimmung ist keine Rede. Das steht in einer offensichtlichen Spannung zueinander. Jedoch gelten weder Selbstbestimmung noch Lebensschutz absolut.  Ein absoluter Lebensschutz lässt sich nicht realisieren, man sollte ihn auch nicht versprechen.

In bestimmten Grenzen, nämlich denen des Grundgesetzes, darf der Staat über das Maß des vom Einzelnen und der Ge­sellschaft hinzunehmenden Risikos entscheiden. Aber eben nur in diesen Grenzen. Es kann eine Zeit lang nötig sein, das „nackte Leben“, das Überleben zu sichern. Dann ist aber die Zeit, die Zustände der Unwürdigkeit zu verändern, damit Lebensschutz Schutz eines menschenwürdigen Lebens bedeutet. (Vgl. Volkmann, Uwe, Recht und Würde. Das höchste Gut, in: FAZ vom 31.03.2020)

Zu Wirksamkeit und Nebenfolgen

Am 27.03. veröffentlichte der Ethikrat seine Ad-Hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“. Wie die Empfehlung betont, ist der „epidemiologisch begründete Imperativ zu bekräftigen, dass die Ausbreitung des Virus jedenfalls erheblich verlangsamt, also die Infektionskurve abgeflacht werden muss (flatten the curve)“ (Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-Hoc-Empfehlung, S. 2). Das ist das primäre Ziel, um dadurch die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu sichern und so Menschenleben zu retten. Dieses Ziel ist unbestritten. Gleichzeitig betont die Empfehlung zu Recht, dass es nötig ist, mögliche Konfliktszenarien als normative Fragestellungen zu diskutieren und Handlungsoptionen – auch kritisch – zu diskutieren.

Das kann u.a. geschehen, indem man Praktiken hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, ihrer Nebenfolgen und ihrer Verhältnismäßigkeit befragt, so wie es jede ethische Fallreflexion (etwa in Ethikkomitees in Kliniken, in der Altenpflege und in Justizvollzugsanstalten) macht. Die Grundlage dazu ist die vernünftige Argumentation, in der Sachurteile und Werturteile zusammenkommen. Das sind Fragen wie: Ist das, was wir tun, sachlich begründet? Ist es normativ richtig? Und sie münden in die Frage, ob eine bestimmte Praxis der Verwirklichung des gesetzten Ziels dient. Da das Virus neuartig ist und wir wenig darüber wissen, sind diese Fragen oft nicht leicht zu beantworten. Es fehlt belastbare Evidenz (vgl. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V., Stellungnahme vom 20.03.2020 "COVID-19: Wo ist die Evidenz?"). Das geringe Wissen erschwert ethische Urteile und macht sie vorläufig. Die Dynamik von öffentlichen Diskursen (aktuell zu beobachten am Beispiel des Tragens von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, wo die Diskussion um Sinnhaftigkeit mit der Demonstration kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit einhergeht) und die dramatischen Bilder, die den Interpretationsraum für Fakten bestimmen, machen es nicht leichter.

Und doch trägt die Frage, ob eine Maßnahme ihrem (eigentlichen) Ziel dient, zu einer ethischen Einschätzung bei. Zweifellos sind auf diesem Hintergrund Abstandsregel und Hygieneregeln derzeit von Bedeutung, denn sie verhindern die Ausbreitung des Virus. Nicht so zweifellos sinnvoll erscheinen manche andere Maßnahmen: Dass man sich im Freien bewegen, aber nicht auf Wiese oder Bank niederlassen darf (die Regelung in Berlin wurde inzwischen gelockert), dass auch Spaziergänge nur mit Angehörigen aus demselben Haushalt erlaubt sind (Bayern), dass die „Einreise“ in Bundesländer untersagt wird, dass soziale Dienste ihre Tätigkeiten weitgehend eingestellt haben etc. (Zum Besuchsverbot in Pflegeheimen morgen eigens unter dem Stichwort „Lebensschutz“.) Dienen sie dem Ziel – und zu welchem Preis? Welcher Schaden wird dadurch angerichtet? Was, wenn Maßnahmen den Schwächsten der Gesellschaft am meisten schaden, die doch eigentlich geschützt werden sollen? 

Wir müssen gar nicht das Gut der Gesundheit mit anderen Gütern abwägen (Freiheitsrechte, Wirtschaft etc.), sondern das Gut der Gesundheit selbst umfasst mehr als den Schutz vor dem Virus: Isolation und Einsamkeit machen krank und verstärken vorhandene Krankheiten, chronische Krankheiten werden nicht behandelt, und auch Armut und Existenzängste können zu Krankheiten führen.

Die beachtlichen Nebenfolgen (bis hin zu Krankheit und Sterben) und die Verhältnismäßigkeit sind v.a. dann zu berücksichtigen, wenn es um die Frage der Dauer der Beschränkungen geht: Denn je länger die Beschränkungen andauern, desto größer werden die Nebenfolgen der Maßnahmen. Das Virus ist in der Welt, es wird weder verschwinden, noch lässt es sich durch irgendwelche Grenzen aufhalten – wie damit mittelfristig umzugehen ist, darf daher nicht nur epidemologisch beantwortet werden.

Gleichheit und Ungleichheit

"Ein Virus trifft alle Menschen gleich!" Das ist im Grunde richtig: Ein Virus sucht sich seinen Wirt nicht aus, es infiziert alle. Doch die Wirkungen des Virus treffen nicht alle gleich! Das gilt einerseits medizinisch: Wer besonders gefährdet ist, durch Alter und/oder Vorerkrankungen, hat ein höheres Risiko schwer zu erkranken. Deshalb versuchen wir, diese Menschen besonders zu schützen. Das gilt andererseits, und darum soll es hier gehen, in sozio-ökonomischer Hinsicht: Menschen mit geringem Einkommen und gesellschaftliche Randgruppen trifft das Virus härter als die Gutsituierten. Die derzeitigen Beschränkungen gelten für alle, aber sie sind doch für einige schwerwiegender als für andere:

  • Die Sperrung von Spielplätzen ist leichter hinzunehmen, wenn die Kinder im Garten spielen können. Wer beengt wohnt, leidet stärker unter den aktuellen Einschränkungen. Die Anspannung in den Familien nimmt tendenziell zu, je weniger man sich aus dem Weg gehen kann.
  • Das gilt umso mehr, wenn existentielle Ängste hinzukommen: Während die einen auf Homeoffice umsteigen können, ich gehöre dazu, gehen andere täglich zur Arbeit. Oft sind es gerade die am schlechtesten Bezahlten, die hoher Ansteckungsgefahr (etwa im Einzelhandel) ausgesetzt sind. Andere bangen um ihren Job, haben längst Kurzarbeit oder ringen als Selbständige darum, wie sie ihre Angestellten und die Miete bezahlen können. Es ist gut, dass die Regierung schnell Maßnahmen ergriffen hat, um sie zu unterstützen – reichen wird es wohl nicht.
  • Auch das Homeschooling wird vorhandene Ungleichheiten vertiefen: Ärmere und sogenannte bildungsferne Familien können die Kinder oft weniger gut begleiten. Es fehlt an technischen Geräten, an Wissen und an Zeit – v.a. wenn Eltern ja auch noch arbeiten müssen und Kinderbetreuung (jüngerer Kinder) nicht vorhanden ist. Engagierte LehrerInnen versuchen das aufzufangen, aber die Herausforderungen sind groß. (Vgl. auch: DLF,Covid-19. Arbeit, Bildung, Geschlecht – warum das Coronavirus nicht alle Menschen gleich trifft, 29.03.2020)

Besonders vulnerable Gruppen der Gesellschaft werden besonders stark getroffen: Obdachlose und Straßenkinder, Pflegebedürftige, Alte und diejenigen, die auf soziale Dienste und Tafeln angewiesen sind, die ihre Angebote stark reduziert haben.

Die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus drohen vorhandene Ungleichheiten massiv zu verstärken. Wenn wir dem nicht entgegenwirken, wird ein epidemologisches Problem zu einem moralischen: Starke Ungleichheit bringt fehlende Chancengerechtigkeit mit sich, und die hat sehr langfristiges Folgen.

In einer weltweiten Perspektive verschärft sich das Problem der ungleichen Betroffenheit: Zwischen den Ländern einerseits, weil viele Länder eine Epidemie mit ihren (Gesundheits-)systemen kaum bewältigen können, und in den Ländern des globalen Südens andererseits: Wenn ein großer Teil der Menschen im informellen Sektor beschäftigt ist, führen Ausgangssperren sehr schnell zu existentieller Not – Wer nicht rausgeht, hat nichts zu essen. Und an Krankenversicherung ist gar nicht zu denken!

Dazu in einem anderen Beitrag.

Vorab

Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem die PolitikerInnen – und insbesondere die Kanzlerin – weitestgehend auf Kriegsrhetorik im Umgang mit Corona verzichten. Ich bin froh, dass sie um besonnenes Handeln bemüht sind und sich von WissenschaftlerInnen beraten lassen, anstatt das Virus zu ignorieren oder für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wir haben ein vergleichsweise gut funktionierendes Gesundheitssystem und Krankenversicherung für (fast) alle, sowie Medien, die frei und kritisch berichten dürfen. Das ist viel, und ich bin sicher, dass sich mit diesen Voraussetzungen die Krise bewältigen lässt.
Und doch ist es Aufgabe der Sozialethik, dann und wann einen Schritt zurückzutreten und die Dinge kritisch zu betrachten. Das versuche ich im Folgenden – auf der genannten Grundlage! Zudem stellt sich die Situation weltweit ganz anders dar: Marode Gesundheitssysteme, aufkeimender (teilweise fortgeschrittener) Autoritarismus und mangelnde weltweite Solidarität tragen zu den verheerenden Wirkungen durch das Virus bei. Auch diese sollen, neben dem Fokus auf die bundesdeutsche Wirklichkeit, in den Blick genommen werden.